BRIEF AUS FLORIDA

  16.10.2020 Kelleramt

Joe Huber, Fort Myers.

Wohl lange Wahlnacht

Vor ein paar Tagen schrieb mir ein Freund aus der Schweiz, dass er diesen US-Wahlklamauk bald nicht mehr ertragen könne und sehr froh sei, dass der Spuk dann am 3. November vorbei sei. Meine Antwort, dass er sich sehr wahrscheinlich noch etwas länger gedulden müsse, trug nicht unbedingt zur Vertiefung unserer Freundschaft bei.

Der Grund meiner Annahme ist mein Florida. Es hat schon öfters in der Vergangenheit durch verzögerte oder unrichtige Auswertungen von Wahlzetteln weltweite Aufmerksamkeit erlangt. Dieses Jahr vermeldete Florida, dass die Website, auf welcher man sich als Neuwähler im Sunshine State registrieren kann, am Anmeldeschlusstag zusammengebrochen ist. Dies angeblich wegen ungewöhnlich hohem Andrang. Das glaube ich sogar noch, denn alle Wahlprognostiker sagen einen neuen Wahlbeteiligungsrekord für die wahrscheinlich wichtigsten Wahlen in diesem Land voraus. Wenn das Computersystem aber jetzt schon im Vorfeld Probleme bereitet, kann man nichts Gutes für den Wahltag erwarten. Und das führt eben zu Verzögerungen des Stimmenzählens. Auch wenn hoffentlich diese Systemprobleme heuer ausbleiben, wird Florida so oder so im Mittelpunkt der Wahl sein, denn um wiedergewählt zu werden, muss Trump Florida gewinnen.

Wenn ich mich in meiner Nachbarschaft bewege, sehe ich fast nur Trump-Transparente am Strassenrand und auch viele Anwohner fahren mit seinem Kleber an der Stossstange durch die Gegend. Der Grund ist wohl, dass diese Ecke historisch eine republikanische Mehrheit in der Bevölkerung hat. Die Demokraten sind eher auf die Ostküste und Grossstädte konzentriert. Die Mehrheit der registrierten Wähler im ganzen Staat ist jedoch demokratisch, auch wenn nur knapp. Da er hier eben wirklich jede Stimme braucht, wird Trump seine Wahlauftritte auf Florida konzentrieren.

Die erste der noch zwei geplanten TV-Debatten ist ja offiziell abgesagt. Man wollte sie aus gesundheitlichen Gründen virtuell machen. Aber Trump sagte gleich darauf, das käme für ihn nicht infrage. Von mir aus kann man auch die dritte Debatte weglassen, denn nach der ersten hatte ich bereits mehr als genug. Das war wohl der tiefste Punkt in der amerikanischen Politik. Am darauffolgenden Morgen ging ich in den Fitnessklub und eine Dame sagte zu einer anderen mit einer ziemlich lauten Stimme, dass es jeder hören musste: «Wer sich nach dem gestrigen Debakel immer noch nicht entschieden hat, dem ist nicht mehr zu helfen.» Und bevor ich sie fragen konnte, welchen sie denn meine, war sie schon verschwunden.

Gemäss den offiziellen Umfragen führt Biden hier in Florida knapp. Aber da ich seit 2016 diesen Umfragen keinen Glauben mehr schenke, bleibe ich bei meiner Prognose, dass Trump den Sunshine State gewinnt. Und auch seine Gegner sagen, dass er damit einen wichtigen Schritt in Richtung Wiederwahl machen würde. Es wird wohl eine lange Wahlnacht geben.

Der in Jonen aufgewachsene Joe Huber wohnt seit 1986 in den USA. Lange Zeit in New York, nun in Fort Myers, Florida. Regelmässig berichtet er von seinem Leben und hält seine Gedanken als Auslandschweizer fest.


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