Der extreme Gisler

  05.02.2021 Sport

RS Freiamt: Reto Gisler ist Chef Leistungssport

Er braucht Adrenalin und steht auf verrückte Dinge: Reto Gisler kam vor 25 Jahren zur Ringerstaffel Freiamt und ist heute eine Institution im Verein.

Sitzt man mit «Gisi» an einem Tisch, dann kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der 46-Jährige hat lauter Geschichten auf Lager, die beeindrucken. Sie handeln von abenteuerlichen Reisen, von Extremsportarten und von prägenden Erlebnissen aus seiner langen Ringerkarriere.

Der letzte Kampf geht in die Hose

Vor über 30 Jahren hat er in seiner Heimat Uri mit dem Ringen angefangen. Das Schicksal spülte ihn 1995 ins Freiamt zur Ringerstaffel. Hier ist er heute der Chef Leistungssport und für die Nachwuchstalente verantwortlich. Gisler ist immer noch ein aktiver Ringer. Im Dezember stand er im Finalkampf gegen Willisau erneut auf der Matte. Der Kampf ging in die Hose. Das änderte nichts an seiner Begeisterung für den Sport. «Ringen ist mein Leben», so Gisler – und erzählt von seinem höchsten Erfolg namens Stok Kangri. --spr


Er flirtet gern mit dem Adrenalin

Ringen, Nationalliga A: Reto Gisler prägt die Ringerstaffel Freiamt als Chef Leistungssport – privat steht er auf Extremes

Aus Uri ins Freiamt: Der 46-jährige Reto Gisler ist hier heimisch geworden. Aus der Ringerstaffel ist er nicht mehr wegzudenken. Der Mann, der die Berge im Blut hat, bringt die Freiämter Ringer in Topform.

Stefan Sprenger

Weltoffen, sympathisch – und ein wenig verrückt. Reto Gisler ist ein Typ, der das Adrenalin und das Abenteuer braucht, wie andere die Luft zum Atmen. Gisler besuchte schon viele Orte der Welt. Ob Tschetschenien, Indien oder Bolivien: «Wenn du Ringerohren hast, stehen dir die Türen offen», erzählt er lachend. Auch in den exotischsten Ländern hat er niemals Angst. Der Vorteil: Mit Ringerohren wird man sofort erkannt. «Und ein Ringer wird nicht ausgeraubt.»

Gisler erzählt, dass er 2018 die Ringer-WM in Kaspijsk (Russland) besuchte – und zuvor alleine mit dem Zug quer durch Tschetschenien reiste. Aus Spass am Abenteuer hat er Tage davor den höchsten Berg Europas, den Elbrus auf 5642 Metern, bestiegen. Und: Er hat sich dann an der WM ins gut bewachte Teamhotel der Schweizer eingeschlichen.

Der höchste heisst Stok Kangri

«Gisi», wie ihn alle nennen, ist ein Weltenbummler. Einer, der ganz viele spannende Geschichten auf Lager hat, die von der Norm abweichen. Er flirtet gerne mit dem Adrenalin. Auf seinen Reisen sammelt er gerne Berge ein. Schon mehrere 6000er hat er erklommen. Sein höchster bestiegener Berg heisst Stok Kangri auf 6150 Metern. Er liegt im Baltoro Muztagh im Karakorum. Wer keine Ahnung hat, wo das liegt, den klärt Gisler gerne auf: «Im Grenzgebiet zwischen Pakistan, China und Indien.» Mit Seil, Pickel und Steigeisen hat er auch schon einige Schweizer Gipfel geschafft. Letzten Sommer kletterte er aufs Matterhorn, er war aber auch schon in Bolivien auf mehreren Berggipfeln. «Ich bin ein fanatischer Berggänger», meint er.

Seine Leidenschaft für die Berge ist kein Zufall. Dort, wo andere im Sommer im Stau stehen, ist für Gisler Heimat. Im Eisenbahndorf Erstfeld ist er aufgewachsen. «Wenn man im Tal gross wird, wo es viel Schatten hat, sucht man automatisch die Höhe.»

Er ist ein absoluter Bewegungsjunkie. Im Ringen kriegt er seine tägliche Dosis. Freeriden nach einem Skitourenaufstieg, Klettertouren auf 6000er, Biken oder Langlaufen bezeichnet er salopp als «Ausgleich zum Ringen».

Die Lebenspartnerin im Pub aufgegabelt

Mit 16 Jahren beginnt Gisler bei der RR Schattdorf mit dem Ringsport. Er ist auf Anhieb talentiert. Als Schattdorf zu viele Ringer in seiner Gewichtsklasse besitzt, sucht er als Leihringer einen Platz in einem anderen Verein. «Ich musste damals heulen», sagt Gisler – und kann heute darüber lachen.

Nach einem Abstecher für ein Jahr beim STV Luzern holt ihn Trainer Urs Neyer 1995 zur Ringerstaffel Freiamt. «Ich bereue das nicht, ein richtiger Entscheid», sagt Gisler. Mit Daniel Lang und Gabor Kapuvari hatte er aber auch hier zwei starke Ringer vor der Sonne. Lang verletzt sich und Gisler hatte in der Nationalliga A seinen Stammplatz auf sicher. In der Mannschaftsmeisterschaft entwickelt er sich zu einer Waffe der Freiämter, holt sich nach etlichen Podestplätzen an Einzelmeisterschaften als 40-Jähriger seinen ersten Einzelmeistertitel. Wenn er an damals zurückdenkt, sagt Gisler: «Eine strenge Zeit. Ich musste mit Ringer-Urgestein Paul Strebel immer ein Bier nehmen nach dem Training.»

Bei solch einem Bier lernt er auch seine heutige Lebenspartnerin kennen. Es war vor 20 Jahren in einem Pub in Ottenbach. Beatrice Rüttimann, die Tochter der damaligen «Aristauerhof»-Wirte, war an jenem Abend ebenfalls im Pub. Sie konnte der charmanten Art des Urners nicht widerstehen. Sie leben seit 2008 in ihrem Eigenheim in Fahrwangen. Zusammen haben sie schon viele Reisen auf der ganzen Welt unternommen und oft mit dem Besuch von internationalen Ringerturnieren verbunden.

Koordinator und Trainer von Talenten

Beatrice ist heute die Marketingverantwortliche der RS Freiamt. Und Reto Gisler der Chef Leistungssport, schon seit vier Jahren. Ehrenamtlich. «Ich wollte mit den Jungen etwas machen», erklärt Gisler, der vorher schon Nationaltrainer der Kadetten und Junioren war. Momentan betreut er zehn Ringer, die im Nationalkader sind. «Für die Zukunft der RS Freiamt ist gesorgt.» Im Ringerkeller in Aristau hat er die Möglichkeit, die Nachwuchstalente der RS Freiamt zu fördern und zu pushen.

Aber auch für die Aktiven ist der 46-Jährige mittlerweile ein unverzichtbarer Wert. Marcel Leutert, Trainer der RS Freiamt, hält eine Lobeshymne auf Gisler: «Er ist ein Riesenmotivator. Seine Arbeit mit den jungen Ringern ist hervorragend. ‹Gisi› hat tolle Ideen und treibt diese auch voran. Er ist für unseren Verein unglaublich viel wert – auch für mich als Trainer. Er ist nicht mehr wegzudenken.»

Gisler baut gemeinsam mit Michi Bucher in Aristau ein regionales Leistungszentrum auf. Dazu holen sie die zukünftigen Ringer in der Schule ab. Zudem ist er Bindeglied zwischen Schule, Lehrbetrieb und Eltern. «Ich bin fast mehr Koordinator als Trainer.» Motivieren müsse er oftmals auch die Eltern, «die nur schlecht loslassen können». Er pocht auf Selbstdisziplin. «Wenn man schon als junger Mensch Eigenverantwortung lernt, ist das für das Leben unheimlich viel wert.»

Gisler organisierte im letzten Sommer auch das legendäre Trainingslager der RS Freiamt in Golzern, in der Nähe seiner Heimat. Davon sprechen die Ringer wohl noch Jahre. Zwischen «Heuen» und «Holzen» wurde in der Natur, direkt am See, viel trainiert.

«Öpe eis neh» ist wichtig für den Zusammenhalt

Und natürlich kam der gesellschaftliche Teil nicht zu kurz. «Öpe eis neh», das müsse einfach sein, sagt Gisler. «Schliesslich hat man schon vor Jahrhunderten im Kloster Bier gebraut.» Er erzählt dazu eine Anekdote aus früheren Trainingslagern. Es ist wohl schon ein Jahrzehnt her, wenn nicht länger. «Wir Trainer haben Nacht für Nacht nur zwei Stunden geschlafen. Aber solange die Leistung stimmt, war das miteinander zu vereinbaren. Das ist wichtig für den Zusammenhalt.»

Was den Ausgang betrifft, ist er etwas ruhiger geworden. Sonst ist er nach wie vor ein Typ der Marke «volle Pulle». Gisler arbeitet als Aussendienstverkäufer einer Verpackungsfirma. Nur zu 80 Prozent. Den Rest der Zeit ist er im Ringerkeller in Aristau. So wie an diesem Freitagmorgen, als ihn diese Zeitung trifft und er gerade die Athleten des Nachwuchskaders trainierte. «Auch in Coronazeiten dürfen die Kaderathleten trainieren und wollen vorankommen.» In seiner restlichen Freizeit zieht es ihn in die Berge. Praktisch an jedem Wochenende ist er in seiner alten Heimat, er besitzt in Golzern noch ein Ferienhaus. «Z Berg» geht er dann, wie er es nennt.

«Ringen ist mein Leben»

Eher ein Tiefflieger war er im letzten NLA-Final der Ringerstaffel Freiamt, als «Gisi» überraschenderweise zum Einsatz kam. Im alles entscheidenden Kampf bis 75 kg Freistil verlor er gegen den 21 Jahre jüngeren Willisauer Tobias Portmann, der früher einer seiner Kaderschützlinge war, als Gisler als Nationaltrainer fungierte. «Müssen wir wirklich darüber reden?», fragt er lachend. Er habe alles versucht, doch es habe nicht gereicht. Einen Vorwurf macht ihm deshalb niemand. Er selbst noch am ehesten. Der Final gegen Willisau ging nicht erst in diesem letzten Duell verloren.

Wird er denn nochmals in den Ringerdress steigen? «Sag niemals nie», so Gisler und erklärt: «Ganz ehrlich. Ringen ist mein Leben. Wenn es geht, stehe ich mit 80 Jahren noch auf der Matte. Vielleicht nicht mehr in einem NLA-Final, aber in der Ringer-Gymnastikgruppe.»


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