GASTKOLUMNE

  16.10.2020 Kolumne

Selina Luchsinger, Bremgarten.

Reduktion

Letzte Woche sind mein Mann und ich von der Schweiz nach Italien gewandert, um Freunde in ihrem Ferienhaus zu besuchen. Bei der Ankunft betrachteten die vier ungläubig unsere halb leeren Rucksäcke. «Ist das alles, was ihr für die gesamte Woche dabeihabt?» Das geht uns eigentlich immer so – dass andere finden, mit so wenig Gepäck könne man unmöglich sieben Tage überstehen. Und mein Geliebter erläutert dann sehr gerne, was es denn für so eine sportliche Tour braucht: Ein Set Ersatzkleider, einen warmen Pulli, einen guten Regenschutz, ein Stück Seife, eine Zahnbürste und etwas Proviant. Basta!

Ich gebe es zu – auch ich musste mich zuerst an das rigide Gepäck-Regime meines Mannes gewöhnen. Aber unterdessen kann ich dem ziemlich viel Gutes abgewinnen. Denn erstens fällt das Gipfelerklimmen im wahrsten Sinne des Wortes leichter und zweitens fällt die Qual der Kleider-Wahl weg – es gibt nur dieses eine T-Shirt und diese eine Hose zum Wechseln…

Eigentlich liegen wir mit unserer reduzierten Reise-Art total im Trend. Minimalismus ist in! Wussten Sie, dass der Westeuropäer im Schnitt 10 000 Gegenstände besitzt? Wer seine Wohnung entrümpelt, sagen die Trendsetter, befreit seine Seele auch gleich von unnötigem Ballast. Mein Mann, der Reduktion lebte, lange bevor es Mode wurde, ist auf alle Fälle überzeugt davon, dass weniger Besitz freier macht und uns mehr Raum zum Atmen gibt.

Ich erinnere mich an unseren ersten gemeinsamen Wohnungsbezug. War das ein Ringen! «Brauchen wir das wirklich?», fragte mein Mann bei jedem einzelnen Stück. Dass ich meine Teekrug-Sammlung behalten durfte, kam einem Wunder gleich …

Und so ist es noch immer auf jeder Reise, die wir machen. Will ich ein einzigartiges Deko-Teil erstehen, fragt er: «Wird es unsere Wohnung wirklich verschönern?» Natürlich bin ich in solchen Momenten total genervt über meinen Spartanen-Gatten, der mir auch gar nichts gönnt. Aber im Nachhinein, ich gebe es zu, bin ich ihm dankbar. So ist in unserer Wohnung auch nach über 25-jährigem Zusammenleben viel Luft und Platz für … Wofür, weiss ich auch nicht so genau. Aber vielleicht ist genau das der Punkt – dass man sich im Leben immer noch ein paar Frei-Räume bewahrt.


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