GASTKOLUMNE

  30.07.2021 Kolumne

Caroline Doka, freischaffende Journalistin, in Wohlen aufgewachsen, lebt heute in Basel.

Was kostete mein Ur-Opa?

Mein Urgrossvater und seine Brüder waren Schwabengänger. Sie zogen im 19. Jahrhundert wie Tausende Kinder aus armen Familien der Surselva und anderer Bergregionen nach Oberschwaben, um bei Bauern ihr Brot zu verdienen. Die Geschichte lässt mich nicht mehr los. Ich recherchiere, finde die Höfe, wo sie dienten, und wandere auf den Spuren meiner Vorfahren von der Surselva ins Schwabenland.

Eine letzte Messe für Schutz in der Fremde, dann hiess es für Moritz, Balz und Fidel Abschied nehmen von ihrem Heimatdorf. Sie waren 12, 11 und 10 Jahre alt. Für ein halbes Jahr ging es nach Oberschwaben auf die Höfe. Die letzten Häuser ihres Dorfes, dahinter begann das Unbekannte. Durch die wilde Vorderrheinschlucht wanderten sie, den Fluss entlang, zusammen mit anderen Buben und Mädchen und einer Führerin. Ob sie Augen hatten für die Schönheit der
Schlucht?

Dann gings durch die Bündner Herrschaft und über den St. Luzisteig. Es war März, vielleicht lag Schnee. Bestimmt taten die Füsse weh. Sie schliefen in Scheunen auf Stroh, erhielten da und dort eine warme Suppe. Bei Bregenz erreichten sie das Schwäbische Meer und tippelten dann, müde vom langen Marsch, in Ravensburg ein. Ob sie sich fürchteten vor der Stadt in der Fremde, Heimweh hatten nach den Bergen? Sie zogen direkt zum Kindermarkt, wo sie sich den Bauern verdingten. Für etwas Geld und doppeltes neues Gewand. Was mein Ur-Opa wohl kostete?

Wie überraschend schön, die Wilhelmshöhe in Oberschwaben, wo Balz, Moritz und Fidel 1880 dienten. Die Ähren so dicht, das Gras so satt, in der Ferne Bodensee und Säntis. Doch was erwartete die Brüder? Sie werden Vieh gehütet, Ställe ausgemistet und in der Knechtekammer oder im Stall geschlafen haben. Ob sie Hunger litten? Hiebe bekamen? Oder Zuneigung? Auf Rosen war keines der Schwabenkinder gebettet. Die drei Diensthöfe von damals gibt es noch. Etwa den Landgasthof Wilhelmshöhe, einst ein Gut mit Bauernwirtschaft. Die Nachbesitzer wissen nichts von Schwabenkindern auf ihren Höfen. Doch sie gewähren bereitwillig Einblick und nehmen Anteil am Schicksal der Kinder. Deren Geschichte gemeinsam aufleben zu lassen, ist heilsam. Für mich – und vielleicht auch für Balz, Moritz und Fidel?


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