Mit sich selbst im Reinen

  14.05.2021 Region Unterfreiamt

Raphael Fahrni hat sich als freischaffender Künstler selbstständig gemacht

Seine Kunst kommt direkt aus seinem Innern. Und Grenzen sind für ihn da, um sie zu überwinden. Der in Büttikon aufgewachsene Raphael Fahrni ist voller kreativer Energie. Diese lässt er in seine Werke einfliessen. Oder stellt sie in den Dienst für andere.

Chregi Hansen

Raphael Fahrni gibt Vollgas. Immer. Egal, ob er Kunstlehrer unterrichtet oder an Kindergeburtstagen einen Workshop gibt. Ob er eine Wand im Shoppingcenter Tivoli gestaltet oder einen Töffhelm besprayt. Ob er mit psychisch Kranken oder mit jungen Straftätern arbeitet. Oder hilft, einen Kindergarten in Togo aufzubauen. Er ist stets mit Leib und Seele dabei.

Seine Passion gilt aber in erster Linie der Kunst. Dabei unterscheidet er nicht gross, ob er für sich ein Bild im Atelier malt oder in einem Coiffeursalon ein Graffiti anbringt. «Mich kann man für alles buchen», erklärt er mit einem breiten Lachen. Und wird gleich wieder ernst. «Wichtig ist es, dass es zwischen mir und dem Auftraggeber stimmt. Je mehr man mir vertraut und je mehr Freiheiten man mir gibt, desto besser wird meine Arbeit», fügt er an. Seine Kunst entsteht meist aus dem Moment. Ist geprägt von der Graffiti-Szene der USA. Und auch wenn er heute seine Techniken enorm erweitert hat, sind die Wurzeln immer noch erkennbar. «Sie sind der Anfang von allem», macht er deutlich.

Aus seinen Jugendsünden viel gelernt

Aufgewachsen ist Fahrni in Büttikon. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, seine Grossväter waren Verdingkinder, sein Vater ist Bauernsohn und Unternehmer, seine Mutter war Coiffeuse. Als Jugendlicher zog er nach Wohlen, später nach Sarmenstorf. «Das Freiamt ist für mich Heimat», sagt er darum, obwohl er schon länger im luzernischen Hinterland lebt und arbeitet. Hier im Freiamt hat er seine ersten Graffitis gesprayt. Meist illegal. «Ich habe manchen Mist gemacht», gibt er zu. Aber vielleicht kann er heute darum so gut mit jungen Sprayern umgehen, wenn sie von der Polizei erwischt und zu ihm geschickt werden. «Ich weiss, was in ihnen vorgeht. Darum finde ich schnell den Draht zu ihnen.»

Fahrni macht nach der Schule eine Bürolehre, wird in diesem Beruf aber nicht glücklich. Er widmet sich immer mehr seiner Kunst, daneben jobbt er, um Geld zu verdienen, oft auf dem Bau. Er reist viel, engagiert sich in der Jugendarbeit, gibt Workshops, gehört zur Betriebsgruppe der Hall of Fame, welche Jugendlichen Graffiti-Wände zur Verfügung stellt. Er ist dabei bei sozialen Projekten, gibt sein Wissen weiter, fördert junge Menschen. «Ich habe gemerkt, das liegt mir. Und ich hätte gerne beruflich im Sozialbereich Fuss gefasst, aber mir fehlte die Ausbildung. Und weil ich immer Geld verdienen musste, hatte ich keine Möglichkeit, eine zu machen», sagt er.

Erfolgreich auch ohne Diplom

Bedauert er diesen Umstand heute? «Nein. Ich habe meinen eigenen Weg gemacht. Ich weiss, was ich kann, und ich habe mir einen Namen gemacht.» Er gibt heute Workshops in Heilpädagogischen Schulen, im Schlupfhuus in Zürich oder auch in Psychiatrischen Kliniken. «Dass sie mich dafür engagieren, beweist, dass sie mir auch ohne Diplom vertrauen.» Raphael Fahrni ist nicht Sozialarbeiter und nicht Jugendarbeiter geworden. Aber er engagiert sich heute dennoch sozial und für Jugendliche. «Ich bin mit mir im Reinen.»

Immer wieder Neues wagen

Und doch: Sein Lebensweg war ein steiniger. Die harte Arbeit auf dem Bau forderte seinen Tribut, Fahrni litt immer mehr unter körperlichen Problemen. Eine Bänderverletzung zwang ihn, mit seinem geliebten Fussball aufzuhören. Und dann starb auch noch seine Mutter, für ihn ein Wendepunkt. «Ich habe immer bei ihr gelebt, wir hatten viele Gemeinsamkeiten. Auch sie war ein sehr sozialer Mensch, hat sich für andere eingesetzt.» Ihr Tod war für ihn ein Wendepunkt. Fahrni setzt nun alles auf die Karte Kunst, zieht um, gründet mit Mystica Art eine Einzelfirma. «Ja, ich bin ein Künstler. Aber ich muss auch Geld verdienen», sagt er. Darum die vielen Auftragsarbeiten. Darum die vielen Workshops. Auch wenn er dafür bezahlt wird, steht bei Fahrni nicht das Geld im Mittelpunkt, sondern der Mensch. Und die Kunst. Ist immer mit voller Leidenschaft bei der Sache. Macht das Unmögliche möglich. «Mit jedem meiner Werke verkaufe ich einen Teil von mir. Es ist in meinem Interesse, etwas Gutes zu kreieren», so seine Maxime. Er entwickelt sich künstlerisch weiter, wagt Neues. Auch wenn die Spraydose noch immer sein wichtigstes Werkzeug ist, so experimentiert der Autodidakt heute auch mit Pinsel oder Airbrush, sticht Tattoos, macht Skulpturen aus Ton, Stein oder Metall, widmet sich dem Upcycling. «Ich will immer wieder meinen Horizont erweitern.»

Hilfsprojekt gegründet

Und auch wenn er seine Arbeitskraft verkauft («und ich bin gut darin, ich beherrsche das Marketing»), so verkauft der 34-Jährige nie seine Seele. Für politische Zwecke würde er sich nicht einspannen lassen. Dafür noch so gerne für soziale Anliegen. Der Vollblut-Künstler spricht nicht nur von Solidarität, er lebt sie vor. So hat er im Gedenken an seine Mutter ein Hilfsprojekt gegründet, die Mama-Anita-Charity. Mit ihr unterstützt er bedürftige Menschen und Tiere in Afrika, im gesamten Balkan und in der Schweiz. Er sieht seine Kunst als Möglichkeit, und die Welt zu verbessern. Organisiert Events und sammelt Spenden, steuert aber auch viel eigenes Geld bei. «Jeder noch so kleine Beitrag kann etwas bewirken», ist er überzeugt.

Nah bei der Natur

Immer mehr sucht er den Bezug zum Mythischen, zur Natur. Da passt es, dass er heute auf einem Bauernhof lebt, auf dem landwirtschaftlich Neues gewagt wird, wo nach dem Prinzip der Permakultur produziert wird. «Es ist eine spezielle Kombination. Zwei Kompetenzzentren sozusagen, die zusammenkommen. Eines für die Landwirtschaft, eines für die Kunst», erklärt der Freiämter. Auf den ersten Blick hätten diese zwei Zentren nichts Gemeinsames, aber beide arbeiten in und mit der Natur. Und ja, eigentlich sei es paradox, dass er, der Sprayer, dessen Kunst ihren Ursprung in den grossen Städten Amerikas hat, nun im kleinen Hüswil im Luzerner Hinterland lebt. «Aber für mich passt es. Ich bin sowieso viel unterwegs.»

Er hat sein Glück gefunden

Er ist keiner, der still sitzt, hat meist mehrere Projekte gleichzeitig laufen. So bestreitet er zur Zeit eine Einzelausstellung im Dynamo Zürich, hilft bei einer Unterstützungsaktion für die unterdrückte Bevölkerung der Chiapas mit, bereitet den eigenen Mama-Anita-Charity-Event vor. Setzt sich weiter ein für Obdachlose, für Tiere, für Kranke. Spielt Fussball mit Asylbewerbern. Taucht tief ein in die Welt der Kelten, schöpft Kraft aus dem Mythischen. Hilft jungen Sprayern, damit sie legal ihre Kunst ausüben dürfen. Bringt Menschen dazu, ihr Inneres in der Kunst zum Ausdruck zu bringen. «Ich überlege nicht erst lange, was richtig oder falsch ist. Ob es mir etwas bringt oder nicht. Ich mache einfach», sagt er von sich selber. «Das macht mich vielleicht nicht materiell reich, dafür erhalte ich viel Lebensqualität. Und habe das Glück gefunden.»

Infos: www.mystica-art.ch.


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