Mitten im Zentrum der Macht

  03.12.2021 Region Oberfreiamt

Meral Kaufmann war bei den Koalitionsverhandlungen in Deutschland dabei

Kommende Woche wird Olaf Scholz neuer Bundeskanzler in Deutschland. Daran hat eine Freiämterin grossen Anteil.

Chregi Hansen

Noch ist es nicht definitiv. In diesen Tagen entscheiden die Mitglieder der SPD, der FDP und der Grünen über den Koalitionsvertrag. Dass dieser abgelehnt wird, ist aber nicht mehr anzunehmen. Falls alles klappt, wird Olaf Scholz nächste Woche zum neuen deutschen Bundeskanzler gewählt. Und damit zum Nachfolger von Angela Merkel.

Dass die SPD ihr gutes Resultat bei den Wahlen auch einem Freiämter verdankt, das war bekannt. Der in Wohlen lebende Werber Dennis Lück hat deren Wahlkampagne orchestriert. Was nur wenige wissen: Auch die Grünen hatten Unterstützung aus dem Freiamt. Die in Waltenschwil und Wohlen aufgewachsene Meral Kaufmann ist Vorstandsreferentin in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen. Kaufmann hat erst am Grundsatzprogramm mitgewirkt und später am Wahlprogramm mitgearbeitet. Und sie sass in den letzten Wochen mit am Verhandlungstisch. «Als wohl Einzige, die selber gar nicht wählen durfte», wie sie lachend erzählt.

Sie ist also mitten dabei, wenn in Deutschland Historisches passiert. Erstmals wird eine Regierung mit mehr als zwei Parteien gebildet. «Bei uns in der Schweiz sind wir uns das schon lange gewohnt. Hier in Deutschland ist vieles noch Neuland», erzählt sie. Und dementsprechend spannend, wie sie im Rückblick auf die vergangenen Wochen berichtet.


Mit den Grünen an die Macht

Die Waltenschwilerin Meral Kaufmann mischt in der deutschen Politik mit

Als in den vergangenen Wochen die Vertreter von SPD, FDP und Grüne in Berlin den Koalitionsvertrag verhandelten, sass mit Meral Kaufmann auch eine Freiämterin am Tisch. «Dabei hatte ich zuvor mit Politik gar nicht so viel am Hut», lacht sie.

Chregi Hansen

Es ist geschafft: In Deutschland haben sich die Spitzen von SPD, FDP und den Grünen auf eine Regierungskoalition geeinigt. Schon bald sollen in Berlin Olaf Scholz zum neuen Kanzler gewählt und das Kabinett gebildet werden. Damit ziehen die Grünen erstmals seit 2005 wieder in die deutsche Regierung ein, die FDP war zuletzt 2013 Koalitionspartner.

Zuvor hatten Vertreter der drei Parteien in verschiedenen Arbeitsgruppen um die Details der Koalition verhandelt. An einem Tisch sass auch eine Schweizerin: Meral Kaufmann, aufgewachsen in Wohlen und Waltenschwil. «Manche haben schon etwas über meinen Dialekt gestaunt», lacht Kaufmann, «und mich gefragt, woher ich komme.» Sie ist zwar nicht die einzige «Auswärtige», die bei den Verhandlungen dabei sass. «Aber die anderen waren alle Doppelbürger. Ich war vermutlich die einzige am Tisch, die bei den Wahlen nicht mitmachen durfte.» Aber das sei manchmal auch ein Vorteil, «ich kann vieles mit etwas mehr Distanz betrachten».

Sich mit Baerbock und Habeck ausgetauscht

Die Freiämterin arbeitet bei der Bundesgeschäftsstelle der Grünen in Berlin und ist Vorstandsreferentin für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Kinder, Familie, Jugend und Sport. Ein breites Spektrum. Sie berät die Vorstandsmitglieder und die beiden Spitzenkandidaten bei Fragen rund um dieses Thema, bereitet sie auf öffentliche Auftritte vor, analysiert diese und hält auch den Kontakt zur Basis. «Die deutschen Grünen sind basisdemokratisch organisiert und politisch sehr breit aufgestellt. Das macht es spannend, aber auch nicht immer ganz einfach», so Kaufmanns Erfahrung.

So hat das Erarbeiten eines Grundsatzprogramms und danach des späteren Wahlprogramms viel Zeit in Anspruch genommen. Allein für das Wahlprogramm trafen über 3000Änderungsanträge ein. «Diese müssen wir sichten und mit den betreffenden Personen und Gruppen verhandeln», erklärt die Schweizerin. Dabei wird sie sowohl bei fachlichen wie auch strategischen Fragen einbezogen. «Ich hatte nicht täglich Kontakt mit ihnen, aber ich habe mich regelmässig mit den beiden Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck getroffen und mich mit ihnen ausgetauscht.» Meral Kaufmann spricht von einem sehr intensiven Jahr. «In meiner Position hat man keinen 8-Stunden-Tag. Wir haben alle intensiv für das Ziel gekämpft, in die Regierung zu kommen.»

Bei der Wahl mehr erwartet

Gut erinnert sie sich an den Wahlabend vom 26.September. Der grosse Jubel bei den Grünen blieb nach der Bekanntgabe der Resultate aus. «Ich gebe zu, wir haben etwas mehr erwartet», sagt die Waltenschwilerin. Erstmals habe die Partei eine eigene Kanzlerkandidatin gestellt. Nach anfänglich sehr guten Umfrageergebnissen haben die Grünen nach und nach immer mehr an Boden verloren. «Wir haben sicher Fehler gemacht, wir hatten aber auch keinen einfachen Stand. Daraus müssen und werden wir lernen.» Doch von Katerstimmung mag sie nicht sprechen. «Wir haben so lange auf diese Wahl hingearbeitet. Und nun war klar, es gibt eine Verlängerung. Das mussten wir erst verdauen. Danach haben wir trotzdem gefeiert.»

Es folgten intensive Wochen der Verhandlungen. Mehr als einmal wurde in der Öffentlichkeit die Frage laut, ob die Koalition doch noch auseinanderfalle. Oder ob die Grünen am Schluss als Verlierer dastehen. Für Kaufmann war das nie ein Thema. «Natürlich trafen teilweise ganz unterschiedliche Positionen aufeinander. Jede Partei musste sich in den Verhandlungen bewegen», macht sie deutlich. Und wer davon spricht, dass es lange dauert, der habe wohl vergessen, dass sich die Verhandlungen vor vier Jahren bis in den Frühling zogen. «Diese Koalition soll mindestens vier Jahre Bestand haben, da darf man sich ruhig etwas Zeit lassen.» Die Einigung jetzt gibt ihrem Optimismus recht.

Werdegang war so nicht geplant

Ihr persönlich liegt vor allem die Bildungsgerechtigkeit am Herzen. Es gebe in Deutschland sehr gute Schulen, aber auch Orte, in denen es mehr schlecht als recht funktioniere und man kaum Lehrer und Lehrerinnen finde. Weil Bildung aber Ländersache sei, sind die Möglichkeiten der Bundesregierung beschränkt. Auch in Sachen Digitalisierung brauchen die deutschen Schulen einen Schub. Und auch beim Bafög, dem Stipendienwesen in Deutschland. «So wie es jetzt organisiert wird, ist es zu bürokratisch und zu kompliziert und erschwert vielen eine höhere Bildung», hat Kaufmann erkannt. Sie hofft, dass die neue Regierung hier Akzente setzen kann.

Dass sie später einmal mitten im deutschen Wahlkampf und danach auch noch in den Verhandlungen für die neue Regierung landet, hätte sich die Schweizerin wohl nie gedacht, als sie im Rahmen ihres Masterstudiums nach Berlin zog. Nach der Kanti in Wohlen hat sie erst Jus und Soziologie studiert, später ein Masterstudium in Public Policy. Der Studiengang verbindet Bereiche der Politik, der Wirtschaft, der Verwaltung, des Rechts und der Soziologie miteinander und befähigt die Absolventen und Absolventinnen, später Entscheidungsträger wie beispielsweise Politiker zu beraten und ihnen Erkenntnisse und Wissen rund um Steuerungsprozesse zu vermitteln.

Von Waltenschwil nach Kreuzberg

Geplant war, dass sie nach dem Studium wieder in die Schweiz zurückkehrt. Doch dann wurde ihr die Stelle bei den Grünen angeboten. «Eine spannende Aufgabe», wie sie betont, die Rückkehr müsse jetzt eben etwas warten. Ihr gefällt es hier, auch wenn sie sich an manche Dinge nur schlecht gewöhnen kann. «Waltenschwil und Berlin Kreuzberg, das sind zwei verschiedene Welten», lacht sie. Hier die pulsierende Grossstadt, die nie schläft. Da die ländliche Idylle im Freiamt. «Manchmal vermisse ich die Ruhe und die Natur schon», gibt sie zu. In Berlin sei alles etwas schneller, ruppiger und dreckiger. «Ich staune immer wieder, wie schön die Schweiz ist und wie gut vieles funktioniert.»

Von anderen lernen

Überhaupt: In Deutschland könne man einiges von der Schweiz lernen, ist sie überzeugt. «Deutschland hat erstmals eine Regierung mit drei Parteien. Da ist vieles Neuland. In der Schweiz sind wir uns gewohnt, auch andere Parteien miteinzubeziehen und in den Kommissionen kollaborativer zu arbeiten», sagt sie. Das bedinge, dass man zu Kompromissen bereit sei. Umgekehrt könne die Schweiz aber auch von den Deutschen lernen, so Kaufmann. Etwa, nicht lange um den heissen Brei herumzureden. Anfangs sei sie etwas erschrocken über diesen Umgangston, gibt Kaufmann zu, «aber es hat auch Vorteile, man weiss, woran man ist». Zudem seien die meisten deutschen Politiker und Politikerinnen rhetorisch scharfzüngiger als die Schweizer. «Das Tempo in der Schweiz ist mir teilweise zu behäbig, etwas mehr Drive würde uns auch guttun.»

Eltern raten zu mehr Pausen

Den Kontakt zur Schweiz hat sie in all der Zeit immer aufrechterhalten. Nach Bremgarten, wo die Grossmutter lebt. Nach Wohlen und Waltenschwil, wo Freunde und Familie wohnen. «Im Freiamt bin ich verwurzelt.» Auch wenn die Besuche ihrer Arbeit wegen weniger geworden sind, so verfolgt ihr Umfeld natürlich, was Meral Kaufmann in Berlin leistet. «Vor allen meine Eltern sagen immer, ich arbeite zu viel und solle mir mehr Pausen gönnen», lacht sie. Und sie verfolgt auch die Politik in ihrer Heimat. Beteiligt sich an Abstimmungen und Wahlen. «Ich denke schon, dass ich wieder in die Schweiz zurückkehre», sagt sie.

Was die Zukunft bringt, das ist in ihrem Fall völlig offen. Bislang hatte sie einfach noch keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. «Ich kann mir gut vorstellen, später in einer Verwaltung zu arbeiten», sagt sie. Am liebsten an einem Ort, wo sie viel Gutes für die Menschen tun kann und viele profitieren können. Ob sie jetzt, nach Abschluss der Verhandlungen, eine weitere Aufgabe übernimmt, das ist offen. «Ich lasse das alles auf mich zukommen. Wichtig war jetzt einfach, dass die Verhandlungen ein Erfolg werden.» Und das wurden sie. Auch dank der Freiämterin in den Reihen der Grünen.


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