Tot, aber dennoch voller Leben

  18.06.2021 Muri

Aufschlussreicher Naturförderkurs im Murianer Wald

Naturama Aargau organisierte in Zusammenarbeit mit der Abteilung Wald des Kantons Aargau den Kurs «Was liegt denn da im Wald rum?». Während zwei Stunden konnte man von vier Referenten viel Wissenswertes über den Wald als Ökosystem erfahren.

Susanne Schild

Die letzten hundert Jahre wurde der Schweizer Wald stark durch den Menschen geprägt. Wie ein natürlicher Aargauer Wald aussähe und was darin leben würde, weiss man nicht. Wie fast überall in Mitteleuropa haben die Menschen das Erscheinungsbild des Waldes und seine Entwicklung stark beeinflusst. Im Aargau sind nur mehr 37 Prozent des ursprünglichen Waldes verblieben.

Wertvolle Altholzinseln

Mit dem Naturschutzprogramm Wald soll bis ins Jahr 2025 auf 17 Prozent der Aargauer Waldfläche dem Naturschutz Vorrang eingeräumt werden. Dabei unterscheidet das Programm zwei verschiedene Ziele: Der Wald soll sich selbst überlassen oder sein Naturwert durch gezielte Eingriffe gesteigert werden.

«Aktuell befinden wir uns in der fünften Etappe des Programms. Bereits 93 Prozent der gesetzten Zielfläche sind erreicht», informiert Antonia Ulmann, Fachspezialistin Walderhaltung, Abteilung Wald des Kantons Aargau. Im Murianer Wald konnten an diesem Abend unter anderem Altholzinseln und deren Bewohner kennengelernt werden. Dort kann sich der Wald ohne menschlichen Einfluss entwickeln. Für 50 Jahre wird hier auf die forstliche Nutzung verzichtet, sodass die Bäume bis zu ihrem natürlichen Zerfall stehen bleiben können. Altholzinseln haben eine Fläche von zwei bis 20 Hektaren. Umfasst die Altholzinsel eine Fläche von mehr als 20 Hektaren spricht man von einem Naturwaldreservat. Insgesamt ist das Ziel, 3400 Hektaren Altholzinseln oder Naturwaldreservate zu schaffen. Das sind sieben Prozent der Waldfläche des Kantons. Erreicht sind mittlerweile 3120 Hektaren. Hier gibt es keine Zielartenlisten und Managementpläne, sondern nur respektvolles Beobachten und Erleben der natürlichen Prozesse.

900 Käferarten in einer Eiche

Mit zunehmendem Alter bietet ein Baum immer mehr Lebensstrukturen für Organismen. Je älter er ist, desto gröber wird seine Rinde. Je gröber die Rinde, desto mehr Insekten können sich darin verstecken. Je grösser seine Krone, desto grössere Horste finden darin Platz.

Wenn ein Baum sein maximales Alter erreicht hat, stirbt er. Er wird zu Totholz. «Das Totholz ist aber genauso wertvoll wie das lebendige», erklärt Käferexpertin und Forstingenieurin Adrienne Frei. «Darum ist es wichtig, dass Totholz im Wald gelassen wird. Der Baum ist zwar tot, aber dennoch sehr lebendig.» Es gibt viele unterschiedliche Arten von Totholz. Man differenziert zwischen stehendem und liegendem, zwischen grossem und kleinem Durchmesser. Je nach Art des Totholzes variieren auch seine Bewohner.

Insgesamt gibt es in der Schweiz 6700 verschiedene Käferarten, wobei 1400 Totholz- oder Holzkäfer sind. Die Käfer werden in Gruppen eingeteilt. Vier wurden von der Käferexpertin näher vorgestellt: Die Holzpilzbewohner, die Altholzkäfer, die Mulmhöhlenbewohner und die Frischholzbesiedler. Jede Gruppe bevorzugt einen anderen Lebensraum. «Darum ist die Baumartenvielfalt auch besonders wichtig», so Frei. Eine Eiche beherbergt beispielsweise 900 Arten, eine Fichte hingegen nur deren 60.

Der Ameisenbuntkäfer ist der Feind des Borkenkäfers

Es gibt in Europa 117 verschiedene Borkenkäferarten. Der grosse Buchdrucker kommt dabei am häufigsten vor. Er richtet grossen finanziellen Schaden in den Wäldern an. «Das Borkenkäferproblem ist ein ökonomisches Problem, kein ökologisches Probelm», betont die Expertin. Denn es gibt Räuber, die Jagd auf den Borkenkäfer machen. Der Ameisenbuntkäfer zählt dazu. Das Problem ist nur, dass ihre Population im Vergleich zu jener der Borkenkäfer erst verzögert zunimmt. «Ziel bei der Borkenkäferbekämpfung ist allerdings, das Holz möglichst früh zu schlagen. Somit kommt sehr schnell sehr viel Holz auf den Markt und beeinflusst den Holzpreis», so Förster Oliver Eichenberger. Dennoch gebe man bei der Borkenkäferbekämpfung Vollgas, so Eichenberger weiter. Aktuell habe man bereits hundert Kubikmeter im ganzen Revier abgeholzt. «Wir wollen, dass die Käfer in zwanzig bis fünfzig Jahren verschwunden sind», so Eichenberger weiter.

«Wir müssen uns entscheiden»

Seit 16 Jahren ist Adrienne Frei Käferspezialistin. «Während dieser Zeit habe ich immer wieder die Frage beantworten müssen, was uns die Käfer überhaupt bringen.» Als Antwort darauf vergleiche sie den Wald mit einem Ball, um den ein Netz liegt. Vor hundert Jahren noch, sei das Netz sehr engmaschig gewesen. Doch immer mehr Maschen sind seitdem weggefallen. Immer mehr Arten würden aus dem Wald verschwinden. «Es hält zwar noch, wird aber immer grossmaschiger.»

Es sei höchste Zeit, den Schalter umzulegen. Der Wald dürfe nicht nur wirtschaftlich genutzt werden. «Ökologisch mache ich mir grosse Sorgen um den Wald. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir entscheiden müssen, wohin wir gehen wollen. Die Förster und die Waldbesitzer haben das in der Hand», so Frei weiter. «Wir müssen unseren Wald als ganzes Ökosystem sehen. Je vielfältiger er ist, desto besser ist es», unterstreicht Stéphanie Vuichard, Naturama Aargau.


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