Um Teil der Gesellschaft zu sein

  15.01.2021 Region Oberfreiamt

Walter Hess aus Bünzen sitzt im Vorstand von TIXI Aargau – freiwillige Fahrer sind gesucht

Sie fahren beeinträchtigte oder betagte Menschen von A nach B – zum Arzt, zur Klassenzusammenkunft, an den Seniorennachmittag. Der Verein TIXI Aargau sorgt somit dafür, dass gehbehinderte Menschen trotzdem Teil der Gesellschaft sein können. Ein Bünzer hilft an vorderster Front mit.

Annemarie Keusch

Walter Hess spricht von einer Herzensangelegenheit. «Es würde mir natürlich etwas fehlen, wenn ich nicht mehr fahren könnte», sagt der bald 75-Jährige. Hess meint sein freiwilliges Engagement bei TIXI Aargau. Später im Gespräch wird er sagen, dass er von diesem Verein erst vor zehn Jahren zum ersten Mal hörte. Wegen eines «Bettelbriefes», der auf seinem Tisch lag. Hess’ Aufmerksamkeit war geweckt. «Ich fahre leidenschaftlich gern Auto», sagt er.

Knapp zehn Jahre später sitzt Hess seit fünf Jahren im Vorstand von TIXI Aargau, aktuell als Vizepräsident und stellvertretender Ressortleiter Fahrzeuge und Fahrer. Entsprechend sieht er es mitunter als seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass immer genug freiwillige Fahrerinnen und Fahrer zum Team gehören. Seit wenigen Tagen steht darum am Dorfeingang von Boswil eine Blache. «Wir haben aktuell zu wenig Leute», sagt Hess.

Jeden Freitag unterwegs

Dabei ist die Nachfrage an TIXI-Fahrten tiefer als auch schon. «Wegen der Pandemie.» Seniorennachmittage, Klassenzusammenkünfte – alle gesellschaftlichen Anlässe sind abgesagt. Entsprechend sind die Fahrdienste weniger gefragt. Trotzdem, Hess ist Freitag für Freitag mit einem der mittlerweile sieben TIXI-Fahrzeuge oder in einem Ausnahmefall mit seinem Privatauto unterwegs. «Einkaufen, Coiffeur-Termine, Therapien, Schule.» Seine Fahrten seien ganz unterschiedlich. So unterschiedlich, wie die TIXI-Kunden es sind. Vom Drittklässler, der aus gesundheitlichen Gründen nicht in die Schule laufen kann, bis zum 99-Jährigen, der am Stock geht. «Das Fahren gibt mir unglaublich viel», sagt der Bünzer. Er spricht aber auch darüber, welche Voraussetzungen Freiwillige mitbringen müssen.


Unterwegs mit Sozialkompetenz

Jeden Freitag ist Walter Hess aus Bünzen als freiwilliger Fahrer für TIXI Aargau unterwegs

43 freiwillige Fahrerinnen und Fahrer zählt TIXI Aargau aktuell. «Zu wenig», sagt Walter Hess. Er ist selber einer der Freiwilligen und sitzt im Vorstand des Vereins. Aktuell könne die Nachfrage zwar abgedeckt werden, erwacht das gesellschaftliche Leben nach der Pandemie wieder, brauche es dringend neue Kräfte.

Annemarie Keusch

Es ist eine ganz einfache Rechnung. Sieben Fahrzeuge gehören zur Flotte von TIXI Aargau. Mit diesen können an den Rollstuhl gefesselte Leute ohne Probleme transportiert werden. Sie sind extra dafür umgebaut worden, mit Rampe und tiefer gelegtem Boden, damit die Höhe passt. Sieben Tage pro Woche bietet TIXI Aargau Fahrdienst an. Und 43 Freiwillige sind es aktuell. Nicht alle engagieren sich gleich stark, nicht alle übernehmen jede Woche einen Tag. Walter Hess schon. Und er sagt: «Wenn alle einen Tag übernehmen, mit sieben Autos und sieben Tagen, dann bräuchten wir mindestens 49 Freiwillige.» Aktuell fehlen also sechs. Walter Hess lacht. «Genug können wir nie haben.»

2007 gegründet folgte fast zwei Jahre später die erste Fahrt von TIXI Aargau. Mittlerweile gehören sieben Fahrzeuge dem Verein. Damit transportieren Freiwillige Leute, die schlecht oder gar nicht zu Fuss sind. «Es sind alles Leute, die alleine in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zurecht kämen», präzisiert Walter Hess. Seit 2011 ist er Fahrer, seit 2015 engagiert er sich im Vorstand. Zu TIXI Aargau kam er per Zufall.

Limousinen-Chauffeur fürs WEF in Davos

Auf die faule Haut liegen, das war für den rüstigen Rentner aus Bünzen kein Thema, als er pensioniert wurde. Eines seiner grossen Hobbies ist Holzen im eigenen Waldstück. Auch im Kirchenchor und allgemein in der Kirchenmusik ist er aktiv. Aber Hess wollte mehr. «Vorher habe ich mich nicht mit Freiwilligenarbeit auseinandergesetzt», gibt er zu. Keine Zeit, andere Interessen.

Als dann nach einem fehlgeschlagenen Engagement als Reiseleiter der Flyer von TIXI Aargau auf dem Tisch lag, dauerte es nicht lange, bis der heute fast 75-Jährige seinen Entschluss fasste. Er meldete sich. «Das ist perfekt für mich, ich fahre derart gerne Auto», sagt er. Eine Zeit lang lebte er diese Leidenschaft als Limousinen-Chauffeur fürs WEF in Davos aus, jetzt chauffiert er Gehbehinderte in der ganzen Schweiz umher.

Auch schwierige Themen ansprechen

Fünf bis zehn Fahrten sind es, die er Freitag für Freitag unternimmt. «Wenn eine ins Tessin führt, bleibt für andere kaum mehr Zeit», sagt er und lacht. Viele sind aber in der Region. Der Luzerner, der aus purem Zufall zusammen mit seiner Familie in Bünzen wohnhaft wurde, sagt: «Erst mit dem TIXI-Fahren habe ich den Kanton Aargau überhaupt so richtig kennengelernt.» Vor allem all die Institutionen und Heime, die es gibt – dessen sei er sich vorher überhaupt nicht bewusst gewesen.

Seit fast zehn Jahren ist Walter Hess dabei. Es sind immer wieder die gleichen Leute, die den Fahrdienst von TIXI Aargau in Anspruch nehmen. Das Wiedersehen freut Walter Hess. «Es ist schön, die Leute kennen einen als Fahrer.» Überhaupt zieht er aus dieser freiwilligen Tätigkeit viel Kraft. «Es wird unglaublich geschätzt, und das ist sehr schön zu spüren», sagt er. Scheu, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, kennt der Bünzer keine. Er erzählt, lacht, fragt. Und er geht auch schwierigen Themen nicht aus dem Weg. Hess weiss um die Leiden und Krankheiten seiner Fahrkunden. Von Multiple Sklerose über Demenz oder Parkinson bis zu üblichen Altersgebrechen, Epilepsie oder ALS. «Die Geschichten berühren einen schon.»

Nachfrage ist aktuell tiefer

Walter Hess fährt seine Fahrkunden zum Einkaufen oder in die Therapie, zu einer alten Freundin oder an ein Klassentreffen. Auch schon in den Ausgang fuhr er eine junge Frau, die im Rollstuhl sass. «Wohin immer sie wollen», sagt Hess und lacht. Vergleichbar zu den Tarifen des öffentlichen Verkehrs fallen die Kosten für die Kundinnen und Kunden aus. Hess als Fahrer verdient nichts. Will er auch nicht. «Ich will der Gesellschaft etwas zurückgeben», sagt er.

Und als stellvertretender Ressortleiter des Bereichs Fahrzeuge und Fahrer ist er auch um die Rekrutierung neuer Fahrerinnen und Fahrer besorgt. «Wir brauchen mehr. Wäre die Nachfrage nicht wegen der Pandemie tiefer, könnten wir sie nicht bewältigen.» Man müsse Freude am Autofahren haben, nennt Hess eine der Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. «Wer beim Fahren nervös ist oder schnell wütend wird, ist nicht geeignet», präzisiert er. Eine gewisse Routine muss gegeben sein. Auch ein technisches Flair brauche es, schliesslich sind die heutigen Rollstühle fast Hightech-Geräte. Körperliche und geistige Fitness sind ebenso vorausgesetzt. «Die Rollstühle müssen via Rampe ins Auto geschoben werden. Das braucht Kraft.» Laut Hess aber mit fast am wichtigsten sei die Sozialkompetenz. «Ohne wird es ganz schwierig.»

Auf der Liste der aktuell 43 Freiwilligen sind acht Namen aus dem Freiamt. Momentan ist Hess der einzige aus dem Bezirk Muri. «Da gibt es Steigerungspotenzial», sagt er und lächelt.

Weitere Infos: tixi-aargau.ch.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote