Verlockender Verzicht

  07.10.2022 Leserbriefe

Zugegeben, auf den ersten Blick scheint das Nicht-Verzichten um einiges verlockender, Verzicht aufzutischen eine unzumutbare, gar absurde Einschränkung der persönlichen Freiheit. So vermittelt es uns jedenfalls die Werbung, die sich selber als Wirtschaftsmotor und Garant für Lebensqualität versteht.

«I ha n alls, wo n i wott, / aber s macht mer kei Spass, / i dänke mängisch a Diogenes / ond as Glöck i sym Fass. E gschyte Siech esch er gsy, / de alt Griech, / wie wärs, wenn em s nochemiech?», schrieb der Bauerndichter und eigentliche Philosoph Friedrich Walti in einem seiner Gedichte. Und machte da nicht nur auf ein Defizit im gesellschaftlichen Denken aufmerksam, er machte damit auch ein Fenster auf für eine Sichtweise, die die Sicht etwas weitet und für Frischluft sorgt.

Denn, da haben sich wohl die kapitalistische wie die sozialistische Sichtweise verrechnet, da sie als materialistisch orientierte Theorien nicht mit der Unersättlichkeit der Menschen gerechnet haben. Aber wenn das Genug nie genügt und der Mehrkonsum und steigende Umsatzzahlen als einzige Orientierungspunkte bleiben, könnte eben schon Orientierungslosigkeit das Resultat sein. Mit dem Resultat, dass die Auseinandersetzungen um die materiellen Grundlagen und die nicht erneuerbaren Ressourcen der Welt in Konflikten enden, die auch den menschlichen Umgang unter den Menschen zu beenden drohen. «Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.» Der Satz von Carl Clausewitz erhält mit dem zynisch-brutalen Krieg in der Ukraine und vielen andern militärisch ausgetragenen Konflikten eine abscheuliche Aktualität.

Da lässt es sich sehr wohl überlegen, wie weit ein unersättlicher Hunger nach immer mehr ein unterschätzter Kriegstreiber ist, an dem wir als sogenannte Wohlstandsgesellschaft mehr, als uns lieb ist, beteiligt sind. Nicht beteiligt daran sind sicher die Menschen unter uns, denen die Genügsamkeit das Leben schon jetzt zur Genüge bestimmt.

Am vorletzten Sonntag feierte die Schweiz – eher im Stillen, wie es sich für ihn gehört – das jährliche Gedenken an den Eremiten und Friedensstifter Niklaus von Flüe, der damals einen anderen Weg auftat für eine Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln. Seine Klause im Ranft wurde sozusagen zur Intensivstation für heikle politische «Operationen» auf der Suche nach Gerechtigkeit und Frieden. War sein «Machet den Zaun nicht zu weit» auch ein Hinweis für uns Heutige, den Zaun unserer materiellen Ansprüche nicht zu weit zu bauen? Und als «Gegenmassnahme» die Weite der immateriellen Dimension unserer Existenz neu zu entdecken.

Martin Köchli, Weissenbach


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