Vom Impfen und von Problemen

  05.10.2021 Meinungen

Stefan Sprenger, Redaktor.

In seinen zwei Säcken hat José ein T-Shirt, zwei Unterhosen und einen Spielzeug-Lastwagen. Er ist 12 Jahre alt und hat keine Perspektive. In den zwei Plastiktüten ist sein ganzes Hab und Gut. Alles, was er besitzt. Seine Heimat Haiti hat er hinter sich gelassen und will mit seiner Familie in die USA, wo alles besser werden soll. In der Stadt Tapachula – an der Grenze von Guatemala und Mexiko – wartet er mit seinen Eltern auf die Weiterreise. Sie haben keine Arbeit, kein Essen, kein Geld, kein Zuhause. Den Termin bei der mexikanischen Auslandbehörde haben sie Mitte Dezember. Sie haben Angst, bis dahin auf offener Strasse zu sterben. José ist einer von über 100 000 Flüchtlingen, die in die USA wollen. Einer von 82 Millionen weltweit, die ihre Heimat verlassen mussten und auf der Flucht sind.

In einer Hütte im Kongo lebt Zuma mit seiner neunköpfigen Familie. Er ist fünf Jahre alt. Spielzeug hat er nicht. Zu Essen gibt es nur Reis. Jeden Tag. Er ist oft müde und schwach. Auf seinem Körper ist jeder Knochen sichtbar. Aussicht auf Besserung gibt es nicht. Zuma ist einer von weltweit 821 Millionen Menschen, die Hunger leiden müssen. Zuma hofft, dass er nicht einer von den über 3,1 Millionen Kindern sein wird, die jährlich (!) vor ihrem fünften Lebensjahr an Hunger sterben müssen.

Auf einer Gartenterrasse in der Schweiz sitzen Peter und Hans. Spielzeug brauchen sie nicht. Peter, 71, geimpft, fräst Hans, 68, ungeimpft, Vollgas in die Parade: «Lass dich impfen, du Löli, dann kannst du wieder in die Beiz.» Hans will aber nicht, er könne schliesslich auch genüsslich in seinem Haus (Marktwert 1,3 Millionen Franken) seinen Cabernet Sauvignon geniessen. Die beiden Freunde streiten sich. Peter will am Ende nicht in der Statistik unter den bislang rund 5 Millionen Corona-Toten weltweit erscheinen. Hans vertraut der Impfung nicht. Hässig düst Peter in seinem Tesla davon. Hans, ebenfalls hässig, bleibt sitzen und bestellt sich ein Rindstatar.

Die Statistiken zu dieser Kolumne entstammen seriösen Quellen. Die Namen sind frei erfunden. Auf eine persönliche Meinung verzichte ich. Entscheiden Sie selber, wer wirkliche Probleme hat – und wer nicht.


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