Wir werden alt

  11.08.2020 Kolumne

Stefan Sprenger, Redaktor.

«Durch diese Hohle Gasse muss er kommen.» Nein, ich meine nicht Wilhelm Tell, sondern es sind die Worte von Kult-Kommentator Beni Thurnheer. 1994: Unser bester Wohler Fussballexport Ciriaco Sforza durchbricht mit einem Jahrhundertlauf die rumänische Abwehr und spielt «durch die hohle Gasse», wie Thurnheer es euphorisch nennt. Adrian Knup montiert das 3:1 für die Schweiz. Ein denkwürdiger WM-Sieg und schon 26 Jahre her. Schon 28 Jahre ist es her, dass Peach Weber sein «Nix wie Gäx»-Album veröffentlicht und vor 24 Jahren bodigte Andy Hug in einem spektakulären «K-1»- Kampf Mike Bernardo. Sforza ist heute 50 Jahre alt, Peach ist 67 und Andy Hug vor 20 Jahren (viel zu früh) verstorben.

Angesichts dieser Tatsachen wird mir erst richtig bewusst: Ich werde alt. Weitere Jugenderinnerungen kommen hoch, die heute als «Oldies» gelten. «Titanic» stürmte vor 23 Jahren die Kinos. Aktuell kann man die Bravo Hits Nummer 109 kaufen. Seit bald 30 Jahren heisst «Raider» jetzt «Twix». Sean Connery wird 92 Jahre alt, Eminem 48 und Brad Pitt 56. Vor 21 Jahren gab es die totale Sonnenfinsternis in Europa. Will Smith ist nun älter als sein Serien-Onkel Phil in «Der Prinz von Bel-Air». Menschen, die im Jahr 2002 geboren wurden, machen ihren Führerschein und verteidigen unser Land. Und ich bin schon zehn Jahre bei dieser Zeitung angestellt.

Es heisst: Alt ist man dann, wenn man an der Vergangenheit mehr Freude hat als an der Zukunft. Ich bin beruhigt. Ich bin also noch jung. Es ist allerdings spannend, dass Menschen unbedingt älter werden wollen, aber eigentlich will keiner alt sein. Viele Jahrtausende lang lag die menschliche Lebenserwartung bei höchstens 30 Jahren – wegen hoher Kindersterblichkeit, Infektionskrankheiten und schwerer körperlicher Arbeit. Erst vor etwa 150 Jahren kam es zur entscheidenden Kehrtwende. Mittlerweile gilt: Bei Menschen, die heute 30 Jahre oder jünger sind, wird ein Lebensalter von mehr als 90 eher die Regel als die Ausnahme sein. Ich bin beruhigt, denn es gibt in Zukunft noch genügend Erinnerungen, an die ich gerne zurückdenke, wenn ich dann einmal wirklich alt bin. Mich tröstet folgendes Zitat: «Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden.»


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