200 Prozent von sich preisgeben

  12.01.2021 Wohlen

Der Pianist Nicolas Streichenberg wird von SRF «geadelt» und arbeitet an einem neuen Projekt

Musiker nehmen normalerweise ein Album auf. Und gehen damit auf Tour. Nicolas Streichenberg alias «Yes It’s Ananias» geht den genau umgekehrten Weg. Er ist daran, die Essenz seiner vielen Improvisationen in eine neue Form zu giessen. Um damit eine Ära abzuschliessen.

Chregi Hansen

Als er diesen Sommer mit seiner Freundin im Hotel «Palace» in Montreux übernachtete, konnte er es nicht lassen: Auf dem Weg zum Essen setzte sich Nicolas Streichenberg an den Flügel und improvisierte einige Minuten. «Zu wissen, dass auf diesem Flügel und an diesem Ort einige der grössten Musiker aller Zeiten gespielt haben, das war inspirierend. Ich habe ihre Präsenz deutlich gespürt», sagt er heute.

Es war ein besonderer Moment. Dies umso mehr, als der Wohler im Jahr 2020 kaum je öffentlich spielen durfte. Um genau zu sein: Im letzten Jahr hatte er nur einen Auftritt, zusammen mit «Knackeboul» im Badener Kultlokal Royal. «Eigentlich waren für diesen Sommer ganz viele Gigs geplant. Dann kam der Lockdown. Und ich hatte Zeit. Viel Zeit», schaut er auf das Jahr zurück. «Ich wollte auftreten, konnte nicht. Und begann mich zu fragen: Was bleibt mir jetzt?»

Nachhören als spannende Reise

Neue Stücke schreiben, wie andere Musiker es taten, konnte er nicht. Denn seine Kompositionen entstehen direkt vor Publikum. Aus dem Moment heraus. Streichenberg hat sich einen Namen gemacht als Improvisator. Psychoautomatisches Spielen nennt er das. 30 solcher Konzerte hat er im Jahr 2019 gegeben. Alle aufgenommen, auf Vinyl gepresst und in limitierter Auflage veröffentlicht. Es sind Dokumente seines Schaffens. Einmalige Momente. «Wenn ich sie mir anhöre, kommen ganz viele Bilder von diesen Konzerten hoch», erzählt der Musiker. Das Nachhören ist auch für ihn eine spannende Reise. «Während des Konzerts bin ich in einer eigenen Welt, bekomme nichts mit um mich. Bin fixiert auf meine inneren Gefühle. Und die Tasten vor mir. Bin quasi nackt. Gebe 200 Prozent von mir preis. Wenn dann der letzte Ton verklungen ist und das Publikum applaudiert, staune ich, wie das Publikum während des Konzerts keinen Mucks macht, den Atem anhält und ich die Menschen erst nach dem letzten Ton wieder wahrnehme.»

Im Dezember 2019 gab er im «Kosmos» in Zürich das letzte Konzert seiner «Psycho Automatic Piano Tour». Damit endet für Streichenberg eine Ära. Die zweite seines Schaffens als Solo-Musiker. Eine Ära, in der er dem Publikum Stille und Besinnung schenkte. Eigentlich wollte er 2020 mit der dritten Ära starten. Doch nun sass er zu Hause und war zum Nichtstun gezwungen. Er hörte sich immer wieder all seine alten Aufnahmen und generell viele Vinyl-Alben an, die er im lokalen Plattenladen in Aarau gekauft oder auf Reisen ergattert hat. Und dabei entstand der Wunsch, diese zweite Ära auf eine spezielle Art zu beenden. «Ich möchte die Essenz dieser 30 Konzerte einfangen, sie umformen, in neue Stücke packen und daraus eine Platte produzieren», erklärt er. Es soll der Start sein in eine dritte Ära.

Zurückziehen ins Studio

Statt live auf der Bühne wird dieses Album im Studio entstehen. In Tontechniker Martin Hofstetter hat er einen kongenialen Partner gefunden. «Wir werden uns eine Woche lang zurückziehen und am Sound feilen», erklärt der gebürtige Badener, der seit einigen Jahren in Wohlen lebt. Wie ein Goldsucher schürft er nach dem wertvollen Innern in seiner Musik. Er selber verwendet gerne das Bild des Fleischwolfs: Die Musik immer wieder verwursten und zu etwas Neuem zusammensetzen. Die Essenz bleibt dabei erhalten. Ein Mix aus Improvisation und Komposition. «Dieses Album soll meine Visitenkarte werden, meine Handschrift tragen», so der 30-Jährige.

Teil des SRF-Adventskalenders

Streichenberg findet es wichtig, dass Kultur auch in der Coronazeit ihren Platz erhält. «Es ist doch unsere Aufgabe als Künstler, die momentane Zeit zu dokumentieren. Kultur ist immer auch ein Abbild der Gesellschaft und der Zeit.» Derzeit sucht er nach Geldern für die Produktion. Da er nicht auftreten kann, fehlt ihm ein Teil der Einnahmen. Zum Glück hat er ein zweites Standbein, der Wohler leitet den Risa-Shop in Zürich. Er ist Risa-Chef Julian Huber dankbar dafür. «Als Musiker entscheidet man sich immer für ein Leben abseits des Normalen. Die Folgen spüren jetzt viele in dieser Coronazeit. Sie fallen durch alle staatlichen Hilfsnetze», kommentiert er die momentane Situation. Zum Glück sei er sich gewohnt, mit wenig auszukommen. «Ich hatte wenig Ausgaben. Das meiste Geld ging für den Kauf neuer Platten drauf», lacht er.

Auch wenn das Jahr 2020 auch ihn durchgeschüttelt hat, so gab es auch durchaus Erfreuliches. Etwa die Zusammenarbeit mit anderen Musikern wie Fai Baba oder der Punkband «Selbstbedienung». Zum ersten Mal seit vielen Jahren veröffentlichte er mit «To Venus and Back» einen Song auf den digitalen Plattformen. Und er war Teil des Adventskalenders von SRF Kultur. Unter dem Hashtag #srfzämestah zeigten junge Kulturschaffende im Dezember täglich, wie ihre Werke entstehen. Hinter Türchen 15 versteckte sich Nicolas Streichenberg alias «Yes It’s Ananias». Für ihn eine Ehre. «Es ging alles sehr schnell. Die Anfrage, die Zusage, die Produktion der Videos», erzählt er.

Damit hat der Wohler eine prominente Bühne erhalten, um über seine Arbeit und seine Sicht auf die Musik zu sprechen. Und sie live zu präsentieren. «Ich habe enorm viel Echo auf den Beitrag erhalten», freut er sich. Und findet es toll, dass SRF den Künstlern diese Plattform gibt. Was ihn aber fast am meisten freut: Die Musikaufnahmen zum Beitrag auf Instagram entstanden im «Kosmos» in Zürich, also genau da, wo er vor gut einem Jahr sein letztes Konzert seiner Tour gab.

Damit schliesst sich sozusagen der Kreis. Das perfekte Ende einer Ära. «Nach der Platte werde ich etwas Neues machen. Was es ist, weiss ich noch nicht. Aber ich bin überzeugt, ich werde bereit sein, wenn es so weit ist», sagt der junge Pianist.


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