Viel erreicht und doch am Anfang

  26.08.2022 Meinungen

Kolumne des Freiämters Marvin Keller, Profifussballer beim FC Wil

Mein Traum war schon immer Fussballprofi, genauer Goalie, zu werden. Begonnen hat der Weg mit knapp sieben Jahren mit einem Paar Torwarthandschuhen, die mir mein Vater an der Bremgarter Chilbi gekauft hatte. Es folgten Hechtübungen auf dem Elternbett, und die Geschichte nahm ihren Lauf.

Gemäss einer deutschen Studie schaffen es nur rund 3,5 Prozent der grossen Talente zum Profifussballer. Die Selektion, es überhaupt zum «Talent» zu schaffen, ist ebenfalls nochmals rigoros. Somit ist auch ein Platz in den Nachwuchsmannschaften eines Profiklubs nur der erste Schritt auf einem steinigen und harten Weg zur Profikarriere. Ich habe mir diesbezüglich nie wirklich Gedanken gemacht. Das beste Rezept schien (und scheint mir noch immer) zu sein, sich einfach auf den Moment zu fokussieren. Immer sein persönliches Ziel vor Augen zu haben und diesem alles unterzuordnen. Träumen tue ich aber trotzdem ab und zu. Mein Motto ist und bleibt konstant und kompromisslos: Leistung zu zeigen; in jeder Situation, in jedem Training, in jedem Leistungstest, in jedem Spiel – auf dem Platz und neben dem Platz. Wenn die Leistung stimmt, ergibt sich alles andere von selbst.

Man sagt, Sport sei eine Lebensschule. Das kann ich nur bestätigen. Die Erfahrungen, die mir mein fussballerischer Weg bisher beschert hat, haben mich als Mensch geprägt und eine Basis geschaffen, welche mir auch in meinem Leben abseits des Fussballplatzes hilfreich sein wird. Unter anderem habe ich gelernt, dass kein Weg aus einer geraden Linie besteht und es vor allem Rückschläge und Misserfolge sind, die einen wachsen lassen und den erfolgreichen Athleten ausmachen. Diese Resilienz habe ich zum Beispiel gelernt, als ich mir mit 15 die Schulter ausgerenkt hatte, sechs Monate konservativ behandelt und therapiert habe, sie dann im ersten Spiel wieder ausrenkte und ich sie dann operieren musste. Alles in allem habe ich ein Jahr gefehlt und mich zurückkämpfen müssen, während meine Konkurrenz sich weiterentwickeln und etablieren konnte. In der gleichen Phase hatte ich die Selektion ins Kader der U15-Nationalmannschaft verpasst. All das hat mich frustriert, aber letztendlich nur noch mehr angespornt, es mir und allen anderen erst recht zu zeigen. In dieser prägenden Zeit merkte ich zudem noch mehr, was mir dieser Sport bedeutet und dass ich meinen grossen Traum zu jedem Preis verfolgen will.
Nach 11 Jahren, in denen ich seit der U8-Stufe sämtliche Mannschaften der Nachwuchsabteilung des Grasshopper Clubs Zürich durchlaufen habe  und im Sommer 2019 meinen ersten Profivertrag unterschreiben durfte, stand eine schwere Entscheidung an. Denn Spielpraxis zu sammeln, ist vor allem für junge Torhüter auf dem Sprung in den Profibetrieb eine enorme Herausforderung.

Ich war beim Grasshopper Club Zürich die Nummer drei und als Stammkeeper in der 2. Mannschaft etabliert. Dazu sass ich ab und an bei der 1. Mannschaft auf der Bank und durfte mir aber nur wenig Hoffnungen machen, regelmässig zu Einsätzen zu kommen. So habe ich mich im Sommer 2021 entschieden, mein mir so vertrautes Habitat zu verlassen, meinen Vertrag vorzeitig aufzulösen und die Chance, mich beim FC Wil in der Challenge League zu beweisen, wahrzunehmen.

Der Vereinswechsel stellte sowohl ein Risiko als auch eine Herausforderung dar. Ein Risiko, weil ich nicht wissen konnte, ob mein Timing stimmt. Eine Herausforderung, weil der Grasshopper Club Zürich zu meiner Komfortzone geworden war, mit der ich brechen musste. Mir war bewusst, dass ich trotz meines jungen Alters den nächsten Schritt machen wollte, und ich traute mir das auch zu. Also stellte ich mich dieser Herausforderung. Die Fahrt ging nun nicht mehr nach Niederhasli in den mir so vertrauten Campus, sondern ins Bergholz im fernen Wil. Der Heugümper auf der Brust, den ich seit meiner Kindheit so stolz trug, wich dem «W»-Logo des FC Wil, aus Blau-Weiss wurde Weiss-Schwarz. Ein komplett neues Umfeld wartete auf mich und damit verbunden auch neue Verantwortungen und Rollen. Die Komfortzone ist angenehm und nicht nur für Sportler eine grosse Verlockung, aber sie birgt die Gefahr, stehenzubleiben und sich nicht weiter zu entwickeln.

Die Parallelen zwischen dem Grasshopper Club Zürich und dem FC Wil mögen geholfen haben, dass ich mich von Anfang an wohl und aufgenommen gefühlt habe und mich letztlich sportlich durchsetzen konnte. So wie das «grosse» GC ist auch der FC Wil ein Traditions- und Ausbildungsverein mit überregionaler Strahlkraft. Somit konnte ich mich schnell in diesem tollen Verein einleben und fühlte mich ab Tag eins wohl. Die familiäre und ausbildungsorientierte Stimmung in Wil empfinde ich als den idealen Schritt für junge Talente, die im Profiwettbewerb Fuss fassen wollen.

Heute kann ich zufrieden feststellen, dass mich meine Risikobereitschaft gestärkt hat und ich an der Herausforderung gewachsen bin. Dieser Wechsel hat sich auf jeden Fall ausbezahlt, denn ich kann hier wertvolle Minuten und Erfahrungen sammeln. Ich konnte mich als Nummer 1 etablieren, kann mich voll auf meine Entwicklung konzentrieren und in Ruhe an mir arbeiten. Zudem konnte ich mich ins Kader der Schweizer U21-Nationalmannschaft spielen. Mit dieser bestreiten wir im Mai 2023 die Europameisterschaft.

Ich schätze jeden Tag aufs Neue und fühle mich privilegiert, Teil einer ganz dünnen Pyramidenspitze zu sein, die ihre Leidenschaft als Beruf leben kann. An dieser Stelle möchte ich allen herzlich danken, die mich auf meinem bisherigen Weg begleitet und unterstützt haben, und ich freue mich auf eine intensive, spannende Saison beim FC Wil und auf jede weitere Herausforderung, die mein Traumberuf mit sich bringt. Nach einem fulminanten Saisonstart ist Wil der aktuelle Tabellenführer der Challenge League – genial.

In diesem Sinne ermutige ich alle Freiämter Sportler in meiner Heimat, Risiken einzugehen, denn man weiss nie, welche Chancen einen ausserhalb der Komfortzone erwarten. Ansonsten mache ich weiter wie bis anhin: hart arbeiten, nicht zu weit in die Zukunft schauen, an mich und meine Ziele glauben, aber trotzdem vom Sprung in eine grosse europäische Liga träumen. Denn alles ist möglich. Erreicht habe ich auf meinem bisherigen Weg schon einiges und trotzdem noch nichts. Ich stehe (hoffentlich) erst am Anfang.

Marvin Keller ist 20 Jahre jung. Er ist in Berikon aufgewachsen, wo seine Familie nach wie vor lebt. Der Freiämter durchlief die Nachwuchsabteilung der Grasshoppers, bevor er 2021 zum FC Wil in die Challenge League wechselte – und Stammtorhüter wurde. Ende Mai 2022 verlängerte er seinen Vertrag bei Wil bis 2024. Keller spielte für die U19-Auswahl der Schweiz und ist Teil der U21-Nati. Er wird im Mai 2023 an die Europameisterschaft fahren. Keller gilt als eines der grössten Goalie-Talente der Schweiz.


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