Miteinander auf Freiämter Art

  05.07.2022 Beinwil/Freiamt

Solidaritätsaktion im Rahmen des Aargauer «Kantonalen» für Schlaganfall-Patient Reto Schärer

Solidarität wird vorgelebt. Ein Dorf, eine Turngemeinschaft, eine ganze Region steht zusammen für Reto Schärer.

Stefan Sprenger

Es sind wunderschöne Werke aus Holz, die Franz Christen in mühevoller Arbeit erstellt hat. Bars, Theken, Tische, Bänke – all diese Objekte hat Christen für das Aargauer Kantonalschwingfest in Beinwil angefertigt. Nach dem «Kantonalen», das am kommenden Wochenende vom 8. bis 10. Juli stattfindet, werden diese besonderen Holzwerke versteigert. So erhalten sie einen «sinnvollen» Platz. Mit dem Verkaufserlös hat man etwas ganz Besonderes vor: Reto Schärer soll unterstützt werden. Er erlitt im Sommer 2020 einen Schlaganfall und seither hat sich sein Leben stark verändert. Sprechen, Schlucken, Laufen – alles Dinge, die der 42-Jährige nicht mehr tun kann. «Er hatte grosse Freude, als er von dieser Aktion hörte», erklärt sein Bruder Rolf Schärer, der selbst als Bauchef beim Aargauer Kantonalschwingfest mithilft. Reto Schärer war früher Turner beim STV Beinwil und ist in «Beuel» aufgewachsen – und er erlebt, wie man auf Freiämter Art das Miteinander und die Solidarität vorlebt. Die Menschen in seiner Heimat denken an ihn und wollen ihn unterstützen. Bruder Rolf Schärer erzählt, wie es Reto nach dem Schlaganfall ergangen ist – und dass man ihm mit ganz kleinen Dingen eine Freude bereiten kann.


Wenn alles plötzlich anders ist

Aargauer Kantonalschwingfest in Beinwil: Grosse Solidarität für Schlaganfall-Patient Reto Schärer

Er war Turner, Unternehmer und ein geselliger Mensch. In Beinwil war Reto Schärer beliebt. Dann veränderte ein Schlaganfall alles. Und nun erlebt der gebürtige «Beueler» eine riesige Solidarität im Rahmen des Aargauer Kantonalschwingfests. Ein Dorf und die Turngemeinschaft stehen zusammen. Gemeinsam für Reto Schärer.

Stefan Sprenger

Die Ferien in Ägypten waren wunderschön. Gemeinsam mit seiner Frau und den drei Kindern geniesst Reto Schärer erholsame Tage im Sommer 2020. Man freut sich aber auch wieder auf das Zuhause in der Schweiz. Reto Schärer, in Beinwil aufgewachsen, lebt mittlerweile mit seiner Familie in Jonen. Beim Transport zurück zum Flughafen geschieht etwas, was man niemandem wünscht. Reto Schärer wirkt apathisch und ist nicht mehr ansprechbar. Er wird in Ägypten in ein Spital gebracht, am nächsten Tag holt ihn die Rega zurück in die Heimat. Reto Schärer, damals 40 Jahre jung, steht mitten im Leben. Ein sportlicher Unternehmer, ein liebevoller Familienvater, ein geselliger Turner, ein glücklicher Mensch. Und jetzt liegt er nach einem schweren Schlaganfall im Koma. Einen Monat lang. Als er wieder aufwacht, ist vieles in seinem Hirn wieder da. Vieles ist verschwunden, vermutlich für immer. Das Leben wird nie mehr dasselbe sein.

Sprechen, schlucken, laufen – alles geht nicht mehr

Sein Bruder Rolf Schärer spricht von einer sehr schwierigen Zeit. «Er konnte nicht mehr schlucken. Er konnte nicht mehr sprechen. Er konnte nicht mehr laufen. Nichts.» Auch wenn es kleine Schritte der Besserung gab, so kann er auch heute noch nichts zu sich nehmen, da der Schluckreflex weg ist. Er wird mit einer Sonde ernährt. An guten Tagen nimmt er mit einem Löffel ein wenig Kaffee zu sich. Nur für einen anderen Geschmack im Mund. Genauso weg ist das Sprachorgan – und laufen kann er nur mit ganz viel Hilfe an einem Gerüst. Er sitzt im Rollstuhl. «Mit Handzeichen, mit dem Tablet, ein bisschen Kommunikation klappt mittlerweile wieder», so sein Bruder Rolf Schärer. «Doch es ist weit entfernt von Normalität.»

Reto und Rolf, sie sind beide in Beinwil/Freiamt aufgewachsen, beide sind von klein auf Mitglieder im Turnverein, beide sind immer dabei, wenn im Dorf etwas geht. Gesellig, fleissig, solidarisch. Richtige «Beueler» eben. Gemeinsam haben die beiden Brüder zwei Unternehmen. Rolf hat eine Transportfirma, Reto hat ein Tankrevisionsunternehmen, wird auch «Tank-Doktor» genannt. «Die beiden Firmen führten wir getrennt voneinander – und doch gemeinsam.» Man half sich gegenseitig – und doch machte jeder sein eigenes Ding.

«Beueler» Turner stehen zusammen

Rolf Schärer, 49 Jahre alt, ist mit seiner Freundin und zwei Kindern in Beinwil zu Hause. Das Leben seines sieben Jahre jüngeren Bruders Reto wird nie mehr so sein, wie es war. Er ist zu 100 Prozent invalide, lebt in einem betreuten Wohnheim Meilihof in Ebertswil (an der Kantonsgrenze von Zürich und Zug). Sein Bruder erklärt: «Er wird vorerst auch dort bleiben.» Sprechen, Schlucken, Laufen – alltägliche Dinge, die für Reto Schärer fast unmöglich geworden sind. «Er checkt alles, was um ihn herum passiert. Er kann beispielsweise problemlos lesen. Er kennt auch alle Menschen von früher. Er braucht manchmal einen Moment, bis er die richtige Schublade gefunden hat», sagt sein Bruder. Er fügt an: «Immer, wenn ich ihn besuchen war, bekommen die Probleme in meinem Leben einen anderen Touch. Sie wirken klein und unbedeutend. Seit diesem Schlaganfall hat sich auch meine Welt verändert, ich bin demütiger.»

Das Schicksal von Reto Schärer bewegt. In so einem Dorf wie «Beuel» sowieso. Der Zusammenhalt ist riesig. Die Turnerinnen und Turner stehen zusammen. Das beweisen die Oberfreiämter mit einer Aktion für Reto Schärer eindrücklich. «Wir unterstützen unseren Turnkollegen Reto Schärer», heisst das Projekt im Rahmen des Aargauer Kantonalschwingfestes. Die Idee: Für das «bäumige Fäscht», das am kommenden Wochenende (8. bis 10. Juli) in Beinwil/Freiamt durchgeführt wird, hat Franz Christen in Hunderten von Arbeitsstunden (in den letzten drei Jahren) besondere Holzanfertigungen erstellt. Einen Rundholz-Unterstand, vier Ypsilon-Bartische, fünf Wurzelstock-Bartische, einen sechs Meter hohen Kletterbaum und diverse Sitzbänke. «Auf Anregung von Franz Christen ist nun geplant, mit einer Versteigerung dieser speziellen Holzarbeiten Reto Schärer zu unterstützen», erklärt Hermann Bütler, OK-Präsident des Aargauer Kantonalschwingfests. «Dabei soll Reto mit dem gesamten Verkaufserlös auf seinem langen und schwierigen Weg unterstützt werden. Wir wollen ihm helfen, Reto ist einer von uns», sagt Bütler, ebenfalls Beinwiler, ebenfalls Turner.

«Mein Bruder war begeistert»

Rolf Schärer, der gemeinsam mit Pirmin «Pitsch» Bucher die Bauleitung des Kantonalschwingfests führt, ist gerührt angesichts der grossen Solidarität für seinen Bruder. «Dieser Zusammenhalt. Das freut mich riesig. Und auch mein Bruder war begeistert.» Die Holzarbeiten sind alles Einzelstücke aus bester Qualität, in die viel Arbeit investiert wurde. Das Kantonalschwingfest will keinen Profit aus diesen Anfertigungen ziehen, sondern damit etwas Gutes tun. «Wir können Freude weitergeben und gleichzeitig meinen Bruder unterstützen», so Rolf Schärer.

Auch die Familie von Reto Schärer steht hinter diesem besonderen Projekt. Seine Frau, seine drei Kinder, «bei ihnen musste das Leben weitergehen», erklärt Rolf Schärer. Sein Bruder habe Verständnis dafür, dass man sich neu orientieren muss nach solch einem Schicksalsschlag. «Seine Familie, seine Freunde, wir alle besuchen ihn, so oft es eben geht.» Und dies sind auch die Momente, die das Leben von Reto Schärer am meisten erhellen. «Es sind kleine Dinge, die ihm Freude machen», so sein Bruder. Beispielsweise ein Besuch in einer neu eröffneten LANDI-Filiale oder ein Ausflug in die Natur. «Es braucht nicht viel und sein Tag ist ein wenig besser.»

Der Moment in Ägypten, dieser schreckliche Schlaganfall, er veränderte viele Menschenleben. Natürlich besonders das von Reto Schärer. Sprechen, Laufen, Schlucken – das alles geht immer noch nicht. Ganz kleine Schritte vorwärts gibt es. «Er hatte Tiefpunkte. Mittlerweile geht es ihm den Umständen entsprechend gut. Er hat gute Tage und auch mal schlechtere Tage», erzählt sein Bruder. «Wenn er mal einen etwas grösseren Ausflug machen kann, dann freut ihn dies besonders.»

Ausflug an den Jungschwingertag

So wird es am kommenden Samstag sein. Rolf wird Reto in seinem Wohnheim in Ebertswil abholen. Gemeinsam geht es in die Heimat, nach «Beuel». Am Samstag findet dort der kantonale Jungschwingertag statt. Reto Schärer wird im Rollstuhl durch das Gelände geführt, das sein Bruder als Bauchef erstellt hat. «Am grossen Schwingfest am Sonntag ist zu viel los, das würde nicht gehen», so Bruder Rolf Schärer, der mittels Handzeichen und Tablet mit ihm kommuniziert. Ausserdem holt der Turnverein, der STV Beinwil, sein 90(+2)-Jahr-Jubiläum am «bäumige Fäscht» im Rahmen des Kantonalschwingfests nach. Alle Turnkolleginnen und -kollegen von früher werden da sein. Und sowieso: Ganz «Beuel» wird auf den Beinen sein. Und Reto Schärer wird viele schöne Begegnungen haben. «Das wird ihm guttun», meint sein Bruder.

Gefangen im eigenen Körper

Reto Schärer ist seit diesem schrecklichen Schlaganfall gefangen in seinem Körper. Doch dieses Projekt, diese riesige Unterstützung, das Mitgefühl, sie geben ihm Hoffnung. «Mit dem Erlös der versteigerten Holzobjekte werden wir vielleicht einen Event veranstalten oder mit ihm in die Ferien gehen. Wir wissen es noch nicht», so Rolf Schärer. Sicher ist: «Wir wollen etwas Besonderes auf die Beine stellen für ihn. Etwas, das ihm Freude macht und das Leben ein wenig lebenswerter macht.»

Die Versteigerungsobjekte werden in den nächsten Tagen im Internet auf www. ag20.ch aufgeschaltet. Die Objekte können am Kantonalschwingfest besichtigt werden.


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