«Nicht aufgeben – ich will leben»

  13.05.2022 Wohlen

Privatschule «Lern mit»: Martin Bieri referierte über sein Schicksal – und Tele Züri machte Filmaufnahmen

Er will noch viel Schönes erleben – obwohl Martin Bieri Opfer eines schweren Unfalls war. Er meisterte den Weg zurück eindrücklich. Und macht den Menschen nun Mut mit seinem Vortrag «Zrugg is Läbe».

Daniel Marti

Hadern? Ja, gibt er zu, diese Momente gibt es. Schliesslich hatte Martin Bieri einen ganz anderen Lebensplan. Aber ein schrecklicher Unfall nahm ihm fast alles. Er verlor vor bald sieben Jahren den linken Arm und das linke Bein. Er stand mitten im Leben, alles in Ordnung, alles bestens mit Familie und Freunden. Erst kurz zuvor hatte er seine Maler-Firma verkauft. Der Hobbysportler liess sich anstellen, um mehr Zeit zu haben. «Ich wollte das Leben geniessen», sagt er.

Und dann dieser unverschuldete Unfall, der Verursacher meldete sich nicht einmal bei ihm. Auch das steckte er weg. «Ich war schon zuvor ein Optimist», erklärt Bieri heute. Diese positive Einstellung und der Drang nach Lebensfreude haben ihm geholfen. Mit zwei Prothesen wurde das Leben wieder lebenswert. «An mir ist nicht mehr alles dran», sagt er heute mit speziellem Humor, «aber ich bin der Gleiche geblieben.» Diese Erkenntnis stimmt zu hundert Prozent. Gewiss, der Blickwinkel habe sich verschoben. «Ich betrachte das Leben heute etwas anders.» Aber die Lebensfreude kann ihm niemand nehmen. Und diese Einstellung vermittelt er nur allzu gerne – wie beispielsweise an der Privatschule «Lern mit».

Aufgeben war keine Option

Es war die Schicksalsnacht vom 7. August 2015, die alles veränderte. Kurz vor 20.30 Uhr, zehn Minuten von zu Hause entfernt. Martin Bieri ist mit dem Motorrad unterwegs, ein Automobilist fährt in einer leichten Kurve geradeaus. Der Crash war unvermeidlich. Bieri, damals 46-jährig, verliert den linken Arm und das linke Bein, hat weitere Verletzungen an Kopf und Kehlkopf. «Ich kann doch nicht aufgeben, nicht einfach abhängen, ich will leben», denkt er später, «es gibt noch so viele Sachen, die ich erleben möchte – trotz Handicap.»

In der Rehaklinik in Bellikon weilt er später neun Monate lang. Der Weg zurück ins Leben ist hart, sehr hart. Und in dieser Phase erkundigt sich Roman Wasik, Reporter und Filmemacher von Tele Züri, in der Rehaklink. Er möchte ein Unfallopfer hautnah begleiten, ein Schicksal aufzeigen, eben den Weg zurück dokumentieren. «Ich habe sofort bemerkt, dass Martin Bieri ein guter Protagonist ist», so Wasik heute. Aber dieser zögerte erst kurz. Eine Radiosendung hatte er schon gemacht. Aber Fernsehen? Roman Wasik braucht jedoch vier Folgen. «Aber wir haben uns schnell gefunden, und ich vertraute Roman Wasik», so Bieri.

Eine Serie von vier Teilen ist entstanden. Premiere am 13. August 2019, «Die Schicksalsnacht». Gefolgt von «Der Weg zurück», «Leben im Alltag», «Traumjob Fahrlehrer».

So ein Schicksal muss nicht das Ende bedeuten

Und Martin Bieri hat seinen eigenen Vortrag. Besucht Töffvereine, Sportclubs, Schulen. Erzählt sein Schicksal, erläutert seinen Wandel – und er sensibilisiert die Menschen. Und dank Liselotte Zimmerli von der Zimmerli Autofahrschule in Oftringen entstand der Kontakt zur Privatschule «Lern mit». Ihre Vermittlung fruchtete, Martin Bieri war schon dreimal zu Gast bei «Lern mit» in Wohlen. Und diese Stippvisite mit dem ergreifenden Vortrag wollte nun vorgestern Mittwoch Roman Wasik von Tele Züri bei seiner Fortsetzung der Serie «Zurück ins Leben» festhalten. Die Aufnahmen gingen locker über die Bühne. Und die Schülerinnen und Schüler waren berührt von der Leidensgeschichte und fasziniert von diesem Kämpfer, der sein Leben wieder in den Griff bekommen hat.

Mittlerweile hat sich Martin Bieri sogar den Wunsch, als Fahrlehrer tätig zu sein, erfüllt. Deshalb passt sein Referat bestens zu einem Nothelferkurs, den die Abschlussklasse bei «Lern mit» gegenwärtig absolviert. «Hier bei ‹Lern mit› durfte ich die ersten Erfahrungen sammeln mit meinem Vortrag», so Bieri. Darum kehrt er immer wieder gerne nach Wohlen zurück. «Er kann perfekt aufzeigen, dass so ein Schicksal nicht das Lebensende bedeuten muss», ergänzt Reto Helbling, Inhaber und Leiter der Privatschule. «Er ist eine Persönlichkeit. Wie er mit seinem Handicap umgeht, kommt einfach an.»

«Etwas zurückgeben»

«Zrugg is Läbe» heisst sein Vortrag passend. Der kann auch mal mehr als zwei Stunden dauern. Er wolle die jungen Menschen sensibilisieren, und er habe nach seinem Unfall so viel Hilfe entgegennehmen dürfen, «nun will ich mit meinen Vorträgen etwas zurückgeben, etwas Sinnvolles machen». Und seine Botschaft ist ganz einfach: «Versucht es immer wieder. Auch mit einem Handicap kann man viel Lebensfreude haben.»

In der Regel müsse er bei seinen Vorträgen am Anfang «nur das Eis brechen». Und bei seinen Lektionen als Fahrlehrer reicht oft ein Satz, um die nötige Lockerheit zu erlangen. «Wollen wir ein bisschen rumkurven?» Und die Arbeit mit jungen Leute «fägt sowieso», sagt er in seinem Berndeutsch.

Zurück zu «Lern mit». Ein Nothelferkurs sei immer wichtig, «fürs Leben allgemein», so Bieri. Und bei «Lern mit» fällt ihm auch vieles leichter. «Von Reto Helbling habe ich hier eine gute Chance bekommen. Lern mit ist eine fortschrittliche Schule», hier könne er seine Botschaften unkompliziert vermitteln. Und alles, was Martin Bieri macht, das tut er tatsächlich mit viel Lebensfreude. Trotz Handicap. Und sind die Hemmungen des Gegenübers mal hinderlich, damit ein richtiges Gespräch entstehen kann, ist Martin Bieri nicht verlegen: «Ausfragen ist viel besser als nur hinstarren.» Und Auskunft gibt er sowieso gerne – über das Schicksal, über Nothelferkurse, über Menschen und über sein neues, wiedergewonnenes Leben.


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