Flucht ins Freiamt

  11.03.2022 Büttikon

Büttikerin reiste an die ukrainische Grenze

«Ich komme euch entgegen», sagte Maria Camenisch vor rund einer Woche zu ihrem Bruder Vladimir. Er, seine Frau und seine Söhne flüchteten aus Kiew Richtung Westen. Die Büttikerin Camenisch wollte aber nicht mit leeren Händen auftauchen und organisierte Hilfsgüter, die sie gleich an die ukrainische Grenze mitnehmen konnte. Die Pflegefachfrau, die im Spital Muri arbeitet, erhielt von ihrem Arbeitgeber unkompliziert Hilfe. Das Spital Muri spendete Medikamente, Verbandsmaterial und Babynahrung. An der polnisch-ukrainischen Grenze holte sie ihre Verwandten ab – und brachte sie ins Freiamt.
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Ein schlechtes Märchen

Maria Camenisch holte ihre Verwandten an der ukrainischen Grenze ab – und erlebt im Freiamt viel Solidarität

Ihr Zuhause ist in Büttikon. Doch ihre Heimat ist im Krieg. Maria Camenisch reiste vor wenigen Tagen an die ukrainische Grenze und brachte Hilfsgüter – und nahm ihre Verwandten gleich mit in die Schweiz. Eine Geschichte zwischen Albtraum, Verzweiflung und ein wenig Hoffnung.

Stefan Sprenger

«Kazky» – Vladimir spricht leise vor sich hin. Sein Blick ist traurig, nachdenklich, fassungslos. Der 60-Jährige bringt keine Worte mehr raus. Er ist sonst auch ein ruhiger Mensch, aber in diesen Tagen noch ein wenig mehr. Er blickt im Minutentakt auf sein Handy. Seine Hoffnung: Die Nachricht, dass der Krieg vorbei ist. Oder wenigstens irgendeine positive Nachricht aus der Heimat. Die Hoffnung, das alles wieder so sein wird wie früher. Er sagt, er sei in einem «Kazky», einem Märchen. Es ist ein schlechtes Märchen.

Noch vor wenigen Tagen war Vladimir mit seiner Familie in Kiew. Er ging seiner Arbeit nach, lebte in seinem Haus, alles war gut, alles war friedlich. Vor zwei Wochen hätte die Familie nicht mit einem Angriff der Russen gerechnet. «Es war ein Säbelrasseln, wie immer», meint er. Und jetzt sitzt Vladimir hier in Büttikon. In einem schmucken Einfamilienhaus. Seine Frau Svetlana und die Söhne Taras und Anton sind mit ihren Freundinnen auch da. Anton erzählt in perfektem Englisch, dass er eines morgens um 4 Uhr eine Bombenexplosion hörte. Gefolgt von einer riesigen Erschütterung. «Da wussten wir, jetzt herrscht Krieg.»

«Ich bin geschockt»

An diesem Tag, als der Krieg losging, wachte Maria Camenisch in Büttikon nichtsahnend auf. Auf ihrem Handy hatte sie unzählige Telefone und Nachrichten. Inhalt: «Was passiert hier?», «Maria, es geht los» und «Es ist Krieg». Maria Camenisch ist in Kiew aufgewachsen. Dort lernte sie auch ihren Mann Christian kennen. Der Bündner arbeitete kurze Zeit in Kiew. Sie verliebten sich. Und wegen dieser Liebe verliess sie vor 24 Jahren ihre Heimat Ukraine – und kam in die Schweiz. Seit 15 Jahren lebt die Familie Camenisch in Büttikon. Sie haben zwei Kinder, ihr Mann ist im Gemeinderat in Büttikon tätig, sie sind bestens integriert. Sie lebten bis vor kurzer Zeit in Büttikon ein glückliches Leben – genau wie ihr Bruder Vladimir in Kiew. Der Ausbruch des Krieges hat alles verändert. «Es ist schrecklich. Ich bin immer noch geschockt. Ich finde kaum Worte», sagt die 46-Jährige.

Spital Muri hilft

Sie war es, die ihren Bruder und dessen Familie wenige Tage nach dem russischen Einmarsch von der Flucht überzeugen konnte. «Ich zeigte ihnen Satellitenaufnahmen, wie die Russen in einem kilometerlangen Konvoi auf Kiew zusteuern», erzählt sie. Vladimir, Svetlana und die Kinder packten das Nötigste zusammen und fuhren los Richtung Westen. «Ich fahre euch entgegen» – sagte sie zu ihrer Familie.

Maria Camenisch beginnt in der Schweiz Hilfe zu mobilisieren. Die Pflegefachfrau, die im Spital Muri arbeitet, fragt beim Spital-CEO Daniel Strub an, ob das Spital Muri medizinische Güter zur Verfügung stellt. Unkompliziert gibt es sofort Unterstützung. Medikamente, Verbandsmaterial, Schmerzmittel, Spritzen, Babynahrung. Eine Nachbarin aus Büttikon arbeitet bei der Firma AkkuPoint in Villmergen. Auch sie hilft. Die Firma spendet «Powerbanks» und weitere hilfreiche Geräte. Auch die Firma «Seitz Instruments» aus Niederrohrdorf hilft. Und viele weitere Menschen, die ihren Hilferuf erhören. «Ich bin überwältigt. Wir durften sehr viel Solidarität erleben, das ist wundervoll», so die Freiämterin.

Sie packt ihr Auto voll mit den Hilfsgütern – und fährt am vergangenen Wochenende mit ihrem Mann los. Ihr Ziel: Die polnische Grenze. Nach 16 Stunden Autofahrt sind sie da. In einer neutralen Zone zwischen den Ländern Polen und Ukraine dürfen sie warten – und ihre Hilfsgüter übergeben. Auf der ukrainischen Seite ist die Schlange lang, sehr lang. 50 km voller Autos. Und viele sind zu Fuss unterwegs. «Was wir dort gesehen haben, machte mich sprachlos. Mir hat es das Herz gebrochen. Frauen, die mit ihren Kindern in der kalten Nacht ausharren. Verängstigte Menschen. So viele verängstigte Menschen. Es war kalt und dunkel. Erschöpfung. Verzweiflung. Überall. Es macht mich tieftraurig», sagt Camenisch. Auf Facebook postet sie ein Video der Szenen an der Grenze. Es macht fassungslos.

Sie übernachtet mit ihrem Mann in einem Schlafsack im Auto – und wartet. Nach ein paar Stunden hat sie ihren Bruder Vladimir und dessen Frau Svetlana gefunden. Sie können losfahren. Weg von der Ukraine. Weg vom Krieg. Ab in die Schweiz. Ab in den Frieden.

«Ich hatte noch nie solche Angst im Leben»

Und nun sitzen sie da. Im Einfamilienhaus in Büttikon. Auf einem grossen Sofa. Zur Begrüssung gab es einen Osterhasen, den die Kinder von Maria Camenisch mit einer Schweizer und einer ukrainischen Flagge verziert haben. Draussen fliegen keine Bomben. Keine Schüsse sind zu hören. Doch die Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse aus der letzten Woche hallen nach. Die Familie harrte die ersten paar Tage im Luftschutzbunker aus. Svetlana erzählt: «Ich hatte noch nie solche Angst in meinem Leben.» Für sie kam der Krieg überraschend. «85 Prozent der Ukrainer rechneten nicht damit», erzählt sie. Doch es ist passiert. Sie wollten abwarten, den Konflikt aussitzen. Sie dachten, das Ganze ist in ein paar Tagen vorbei. «Wir haben dann gemerkt, dass es nicht vorbeigeht.» Sie wollten nicht flüchten. Sie mussten.

Die Familie verstreut sich auf ihrer Flucht Richtung Westen. Sie erleben schockierende Dinge. Dinge, die man sich kaum vorstellen kann. «Was wir durchgemacht haben, kann man nicht in Worte fassen», sagt Vladimir. Und jetzt hoffen alle, dass es bald vorbei ist. Das dieser sinnlose Krieg ein Ende findet. Sohn Anton sagt: «Daran glaube ich nicht. Das wird noch lange anhalten.» Er spricht englisch, seine Eltern verstehen ihn nicht. Es ist wohl besser so.

Zwischen Ohnmacht und Dankbarkeit

Die riesigen Emotionen im Haus der Camenisch in Büttikon sind allgegenwärtig. Alle wirken ruhig, doch eine einzige Frage kann sie aus der Bahn werfen. Mutter Svetlana wird gefragt: «Wie geht es dir?» – und schon beginnt sie zu weinen. Die Tränen kullern, die Worte fliessen. «Wir haben Angst, dass unser Zuhause platt gemacht wird. Existenzängste. Wir haben Angst um die Menschen, die dort geblieben sind. Wir sind plötzlich nicht mehr zu Hause. Plötzlich hier in der Schweiz. Es ist komisch. Wir sind tief schockiert – und gleichzeitig so dankbar für die riesige Hilfe von allen Menschen hier.» Sohn Anton sagt leise: «Wissen Sie. Eine Bombe, eine Sekunde, und so viel ist zerstört. Das dauert dann Jahre, um alles wieder aufzubauen. Wir wissen einfach nicht, wie es jetzt weitergeht.» Die Familie hängt in der Luft. Doch sie ist in Sicherheit.

Ein gutes Gefühl in diesen unguten Tagen

Maria Camenisch erwähnt immer wieder die grosse Solidarität von ganz vielen Menschen in ihrem Umfeld und aus der Region. Und sie hofft, dass auch weiterhin die Leute helfen möchten. «Egal wie», sagt sie. Denn es sei bitter nötig. Und es gibt ein gutes Gefühl in diesen unguten Tagen.

Vladimirs Handy blinkt auf. Sofort schaut er drauf. Eine Pushmeldung. Nichts Positives. Er sei nach wie vor in einem «Kazky», einem Märchen, das sich wie ein Albtraum anfühlt. Doch seine Schwester Maria Camenisch aus Büttikon und ganz viel Solidarität geben der Familie Hoffnung – wenigstens ein bisschen.


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