Der Schlüsselmeister

  27.08.2021 Fussball

Abschluss der Serie: «Regionalfussballstars von früher»: Pietro Vedovato, FC Wohlen

Pietro Vedovato und der FC Wohlen – das ist eine sagenhafte Liebesgeschichte. Sie dauert von 1962 bis 1981, über 500 Spiele lang, von der 1. bis zur 3. Liga. Der heute 78-Jährige erzählt aus seinem eindrücklichen Leben. Er ist der Regionalfussballstar schlechthin. Und deshalb ist Vedovato auch der krönende Abschluss dieser Serie.

Stefan Sprenger

Markante Nase, grosses Herz, braune Augen – und ein Handy, das ständig klingelt. «Lago mio. Ich nimms schnell.» Nachdem sein Handy mehrmals bimmelt, muss Pietro Vedovato rangehen. Er lehnt sich seitlich zurück im Stuhl und grübelt in seiner Hosentasche sein Smartphone hervor. Eilig spricht er: «Ciao. Ciao. Ich rufe zurück. Va bene. Ciao.» Bevor sein Handy wieder verschwindet, schmeisst er seinen Schlüsselbund auf den Tisch. 15 Schlüssel hat Vedovato. Sie sind Zeugen eines eindrücklichen Lebens. Was kann er damit alles öffnen? «Emanuel-Isler-Haus, Sakristei, Kirche, Pfarrhaus, das ACLI, mein Haus, den Kinderhort Peter Dreifuss, die Hegi AG, diverse Keller, technische Räume, meinen Ford.» Er ist sich bei einigen Schlüsseln aber nicht mehr ganz sicher, zu welchem Schloss sie passen. «Wenn ich ihn dann brauche, fällt es mir schon wieder ein.»

Verstecken, um zu kicken

Dieser Pietro Vedovato ist ein Typ, den kann man nicht erfinden. Und in seinen Augen steckt viel Freundlichkeit und Treue. Stichwort Treue. Da kommt automatisch der FC Wohlen ins Spiel. Er war Leistungsträger, Dauerbrenner, Marathon-Mann, Rekordspieler. Ein Trainer sagte einst: «Wenn ich elf Pietros im Team hätte. Dann hätte der FC Wohlen überhaupt keine Probleme.» 19 Saisons lang spielt er auf der Paul-Walser-Stiftung, macht über 500 Spiele, von 1962 bis 1981, von der 1. bis zur 3. Liga. Welches war das beste Spiel? Vedovato überlegt keine Sekunde: «Alle. Einfach alle.»

Dass dieser Ausnahmemensch zum FC Wohlen gefunden hat, ist purer Zufall. Nach seiner Lehre als Elektromonteur in Italien, konnte er in der Schweiz ein Praktikum absolvieren. Weil sein Bruder Giuseppe bei der BBC in Baden ebenfalls ein Praktikum machte, landete er beim selben Arbeitgeber. Am 1. September 1961 kommt er erstmals in die Schweiz. Als Erstes schnappt er sich einen Ball und kickt mehrere Stunden auf dem Fussballplatz – nur für sich. Denn in seiner Heimat, im Dorf Oderzo in der Provinz Treviso, durfte er nicht kicken. «Mein Vater hat mich gesperrt», erzählt er lachend. Zuerst die Lehre, dann das Vergnügen. Der junge Pietro spielte trotzdem im Geheimen und musste oft flüchten und sich verstecken, wenn sein Vater beim Kontrollgang die Fussballplätze abklapperte. Hier in der Schweiz konnte er endlich seine Leidenschaft frei ausleben.

«Cha de öppis?»

Vedovato schliesst sich der Firmenmannschaft an. Er wurde später angefragt, bei einem Grümpelturnier in Wohlen für einen verletzten Spieler einzuspringen. Vedovato sagt Ja. Eine Entscheidung, die sein Leben verändert. Er und sein Team kommen in den Final, dort schiesst der Italiener zwei Tore – und verliert trotzdem. Als das Turnier vorbei ist, steht George Hugh Thomas Johnson vor ihm, der Präsident des FC Wohlen. «Hast du Interesse, für uns zu spielen?», soll er Vedovato gefragt haben. Natürlich wollte er.

Das Problem: Er stand kurz vor seiner Rückkehr nach Italien. Damals – zu Zeiten der Schwarzenbach-Initiative – war alles etwas komplizierter. Wiederum ein glücklicher Zufall wollte es, dass Bernhard Hegi Senior für die Lautsprecheranlage an jenem Grümpelturnier verantwortlich war. Hegi wird angefragt, ob er diesen «italienischen Stromer» nicht bei sich im Betrieb aufnehmen kann. Hegi fragt: «Cha de öppis?» Wenige Tage später folgt ein kurzes Einstellungsgespräch im Restaurant Sternen in Wohlen. Vedovato muss zurück nach Italien und erhält den Vertrag von der Bernhard Hegi AG nach Italien geschickt. Dieser Arbeitsvertrag war gleichbedeutend mit der Aufenthaltsbewilligung – und so wurde auch sein Engagement beim FC Wohlen Tatsache.

Heuer, im Jahr 2021, feiert Pietro Vedovato sein 60-Jahr-Jubiläum bei Hegi. «Ich arbeite noch ein bisschen», sagt er. Drei Geschäftsführer hat er in dieser Zeit erlebt, alle hiessen Bernhard Hegi, «und einer war besser als der andere».

Tod seines «goldigen Bruders»

Wenn er heute nach dem Grund gefragt wird, wieso das Schicksal ihn in die Schweiz spülte, antwortet er: «Mein Bruder Giuseppe.» Ohne ihn wäre Pietro Vedovato nicht hier gelandet. Vor wenigen Monaten ist Giuseppe, zwei Jahre älter als Pietro und ebenfalls in Wohlen zu Hause, verstorben. «Er war mein goldiger Bruder», sagt Pietro Vedovato – und für einmal wird aus dem sonst so positiven und aufgestellten Mann ein nachdenklicher und trauriger Bruder. «So viel Zeit ging verloren. So schnell ist ein Leben vorbei. Das gibt mir zu denken.»

Doch Vedovato segelt nicht lange in Pessimismusgewässern. Schnell ist er wieder da, dieser positive Italiener, für den das Glas immer halb voll ist. «Ich bin ein Kämpfer», pflegt er immer zu sagen. «Und es muss weitergehen.» Das sagte er sich auch nach einem heftigen Ereignis im Jahr 2007. Morgens ging er arbeiten, wie immer. Bald merkt er ein komisches Gefühl im Bauch. «Ich bin dann nach Hause gegangen und habe einen Tee getrunken.» Doch es wurde nicht besser. Er geht zum Arzt und schliesslich ins Krankenhaus. Irgendetwas in seinem Körper war nicht mehr so, wie es sein sollte. Vedovato geht es immer schlechter. In Aarau erhält er die Diagnose: Aortariss. Die Lebensader ist kaputt. Mit dem Helikopter wird er nach Basel verlegt, für mehrere Tage ins künstliche Koma versetzt. «Ich war schon fast oben im Himmel», meint er. Doch er findet zurück ins Leben. Nach einer wochenlangen Kur in der Klinik Barmelweid ist er wieder gesund. Rückblickend sagt er: «Das war wohl das schlimmste Erlebnis meines Lebens.»

Am 11. November 1962 gibt Vedovato sein Debüt bei der ersten Mannschaft des FC Wohlen. Er steht sofort in der Startelf. Dies, obwohl er kein einziges Training mit dem Team absolviert hat. Die Skepsis gegenüber diesem neuen Italiener war gross – und schnell verflogen. Mit seinem Einsatz, seinem Auge und seinem tollen Charakter wird er schnell zum Leistungsträger. Und Vedovato fühlt sich sofort pudelwohl. Als Ausländer wurde er beim FC Wohlen bestens aufgenommen, respektiert und geschätzt. Und das hat Vedovato vor allem sich selber zu verdanken. Denn diesen Spieler und vor allem diesen Menschen muss man einfach mögen.

«Das schlimmste Spiel meiner Karriere»

Er erinnert sich an die grandiose Saison 1965/66, als der FC Wohlen in der 1. Liga lange Zeit vorne mitspielte und beinahe die Aufstiegsspiele erreichte. Vedovato spricht von denkwürdigen Cup-Spielen. 1961 gegen die Young Boys (0:1). 1964 gegen den NLB-Leader Aarau (3:4) vor 2000 Zuschauern. Oder 1965 gegen Lugano (2:5). «Das war einmalig.» Doch es gab auch Tiefpunkte beim FC Wohlen. Der Abstieg aus der 1. Liga 1967, der Fall in die 3. Liga 1975. Eine 0:4-Heimpleite gegen Schöftland besiegelte damals den Abstieg. «Das schlimmste Spiel meiner Karriere, das hat einfach nur wehgetan», sagt er noch heute. Der Schiedsrichter pfiff erst einen umstrittenen Penalty für Schöftland, wenig später wurde ein Tor nicht gegeben. Vedovato verlor die Nerven, verabschiedete sich demonstrativ in die Kabine und hätte am liebsten das ganze Team vom Feld geholt. Doch ein Weggefährte namens Karl Elsener holte den temperamentvollen Italiener zurück auf den Rasen. Doch der Schiedsrichter liess Vedovato nicht mehr mitspielen. Dazu gab es eine saftige Busse von 200 Franken (die der Verein bezahlte).

Mit 38 Jahren war Schluss

Trotz dem Fall in die 3. Liga bleibt er. Natürlich. Weil er mittlerweile ein Routinier geworden ist, wird er von allen nur «Papa» genannt. 1977 kehrt der FCW zurück in die 2. Liga. Dort spielt Vedovato noch drei Saisons, ehe er 1980 offiziell verabschiedet wird. «Aber sie haben mich wieder überredet», sagt er lachend. Drei Monate nach seiner Verabschiedung sass er schon wieder auf der Bank. Im Frühling 1981, als 38-Jähriger, war dann definitiv Schluss. Nach 19 Spielzeiten beim FC Wohlen und über 500 Matches. Er fehlte praktisch nie, war nicht einmal verletzt. «Natürlich hatte ich mal ein Bobo, aber dann habe ich eben durchgebissen.» Bei den Veteranen und den Senioren kickt er danach noch Jahre weiter.

In seiner Aktivzeit kriegt Vedovato natürlich auch Angebote von anderen Vereinen. Vom FC Hochdorf oder vom FC Aarau, damals in der NLB. Vedovato ist aber eine treue Seele. «Als ich nach Wohlen kam, hatte das Dorf 8000 Einwohner. Ich habe es wachsen sehen. Ich habe hier so viele Freunde und tolle Menschen kennengelernt. Ich bin am richtigen Ort hier. Wohlen ist meine Heimat», sagt er heute – 2021 – mit 78 Jahren Lebenserfahrung.

Apropos Lebenserfahrung: «Dreimal holte ich einen Sechser im Lotto», sagt Pietro Vedovato. Einmal holte er den Jackpot mit dem Dorf Wohlen, das er bis heute auch gesellschaftlich prägt. Beim ACLI (Associazioni Cristiane Lavoratori Internazionali) und bei der Kirchenpflege wirkte er mit. Der Höhepunkt: Beim Reithallenweg bauten sie einen Kinderhort auf, gemeinsam mit dem bekannten Don Silvano. Den zweiten Lotto-Sechser zog er mit der Firma Hegi AG, wo er sechzig Jahre lang arbeitete (bis heute). Und den grössten Lotto-Jackpot ist seine Frau Gianna. «Ich würde sie am liebsten noch einmal heiraten. Ich habe so ein Glück mit ihr.» Mit Gianna, die aus demselben Dorf stammt wie er, hat Vedovato zwei Buben in die Welt gesetzt, Paolo und Luca. Und auch wenn sie nie besondere Freude am Fussball hatte, schaute sie in der Familie immer zum Rechten und liess ihren Mann gewähren und seiner Leidenschaft nachgehen. «Heute tut mir die Zeit weh, die ich verpasst habe», sagt der zweifache Grossvater. Er möchte seiner Familie danken, «für die Zeit, wo ich Fussball spielen gehen durfte». Zumindest der Fussball raubt ihm heute nur noch wenig Zeit. Er schaut sich gerne die Heimspiele des FC Wohlen an und hofft, «dass der Verein irgendwann wieder an der NLB schnuppert».

«Alles habe ich gefunden»

Zurück zu seinem Schlüsselbund mit 15 Türöffnern. «Der Schlüssel zu einem glücklichen Leben ist eine tolle Frau, ein guter Arbeitgeber, eine Heimat und ein besonderer Verein. Das alles habe ich gefunden und behalten. Hier in meinem Wohlen», sagt Vedovato. Ein Schlüssel hängt nicht am Bund. Er existiert nur in der Vorstellungskraft. Es ist der Schlüssel zu den Herzen der Wohler – und diesen hat Pietro Vedovato seit genau sechzig Jahren in der Tasche, als er nach Wohlen kam und die Menschen hier als Fussballer und Mensch berührte.


Ende der Serie

Goalie Reto Felder, Schnauzträger René Saxer, die Bächer-Brüder, die Saxer-Zwillinge, der Laufgott Roger Geissmann, die Profis Luca Iodice, Oliver Stöckli oder Pavel Krapf, der Knipser Claudio Lo Nigro, das Trainer-Urgestein Hanjo Weller, der Aussenläufer Daniel Weiss, der kunterbunte Stephan Schmid oder das Eisenbein Gerhard Schädler – die Liste der Serie «Regionalfussballstars von früher» ist lang, ganze 29 Namen lang. Diese Serie von früheren Grössen des Freiämter Fussballs wurde aus der Corona-Zeit geboren und fand bei den Fussballfreunden riesigen Anklang. Sie war auch auf der Redaktion eine geliebte Arbeit. Nun endet diese Serie, mit dem wohl grössten Regionalfussballstar schlechthin, Pietro Vedovato vom FC Wohlen. Er steht für Treue, für Ehrgeiz, für unendliche Liebe zum Fussball. Wie alle «Regionalfussballstars». Die Sportredaktion bedankt sich fürs Lesen und die vielen tollen Feedbacks.


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