Diplomarbeit über Magersucht

  19.03.2021 Bildung

Mit der Diplomarbeit beendet Chantal Gisler die Ausbildung an der Journalistenschule MAZ in Luzern. Die Arbeit ist ein Porträt über eine Magersüchtige und ihren Kampf gegen die Krankheit. --chg


Hunger nach weniger Schuld

Diplomarbeit zum Thema Magersucht im Rahmen der Ausbildung an der Journalistenschule MAZ

Maureen Lucas hat die Magersucht besiegt. Trotzdem begleitet sie die Krankheit jeden Tag. «Ich werde wohl immer etwas krank bleiben», sagt die 23-Jährige. Die Geschichte, wie ein falscher Satz sie fast umgebracht hätte und wie sie heute noch damit zu kämpfen hat.

Chantal Gisler

An einem frühen Märznachmittag, es ist 2016, die Wolken hängen dicht über Buchs, verlässt eine grosse, sehr dünne Frau mit schwarzen Haaren die Wohnung ihrer Eltern, um ihr Leben zu retten. Maureen Lucas, damals 19 Jahre alt, 1 Meter 70 gross und 42 Kilogramm leicht, trägt eine dicke schwarze Jacke, darunter einen dicken schwarzen Pullover und darunter ein schwarzes langärmliges T-Shirt. Dazu einen schwarzen Rock, der ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reicht. Sie trägt schwarze Nylonstrümpfe, durch die man jeden Knochen erkennt. Sie hasst es. Deshalb trägt sie dicke Socken, die über den Knien enden. Mit ihrem weissen Fahrrad fährt sie an den Aarauer Bahnhof. Von da aus dauert die Fahrt mit dem Zug nur 20 Minuten. Ihr Ziel ist das Spital in Zofingen.

Heute lebt die 23-Jährige in ihrer eigenen Wohnung in Suhr. Sie sitzt auf dem cremefarbenen Sofa mit der schneeweissen Decke über den Beinen. Die kinnlangen schwarzen Haare streicht sie sich immer wieder hinter die Ohren. Die Arme sind mit schwarzen Tattoos bedeckt, Schriftzügen und Mandalas. Offen spricht sie über ihre Magersucht und auch über den Auslöser: diesen Tag in der Klinik Barmelweid, an dem die Ärztin der Familie sagte, dass ihre Schwester Noémie sterben würde – den wird sie nie mehr vergessen. Ihre Schwester war magersüchtig. «Die Ärztin sagte, dass sie nur noch zwei Wochen zu leben hat. Und sie sagte, dass es meine Schuld ist.» Sie habe sich nicht um ihre Schwester gekümmert, ihre Krankheit sei auch ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Ihre Mutter korrigiert sie an diesem Punkt immer: «Es war nicht die Ärztin, sondern eine Assistenzärztin. Und das hätte sie nie sagen dürfen. Wir haben es sofort abgestritten, aber diesen Satz hat Maureen in sich hineingefressen.» Für Maureen Lucas bricht eine Welt zusammen. «Ich lag den ganzen Abend im Bett und habe mich gehasst. Ich wollte verschwinden. Für immer.»

Maureen Lucas, damals 19, eine junge Frau mit meerblauen Augen und einer grossen runden schwarzen Brille mit dünnen Rändern, plant, nicht länger als zwei Stunden im Spital Zofingen zu sein, um sich Hilfe zu holen. Sie will, dass die Therapeutin ihr sagt, dass mit ihr alles o.k. ist. Sie möchte wieder nach Hause, in ihr Zimmer, wo sie sich unter die Decke verkriechen und die Welt draussen ignorieren kann. Am liebsten würde sie gar nicht mehr rausgehen. Sie hasst sich. Seit Monaten bestraft sie sich selbst, indem sie kaum mehr isst. Sie darf nicht, denn sie ist schuld daran, dass es ihrer grossen Schwester schlecht geht. Ihre Schwester ist schon länger magersüchtig und kämpft um ihr Leben. Ihre Eltern streiten sich oft, wollen sich sogar scheiden lassen. Maureen Lucas hält es nicht mehr aus, sie will nicht mehr leben. Sie denkt an Selbstmord. Sie könnte am Aarauer Bahnhof vor den Zug springen. Nein, das traut sie sich nicht. Von einer Brücke springen. Nein, den Sturz könnte sie überleben und querschnittsgelähmt sein. Sie denkt an ihre Schwester. «Da war es mir klar: Wenn ich magersüchtig werde, kann ich verschwinden. Einfach unsichtbar werden und gehen, dann wären alle Probleme gelöst und meine Familie wäre wieder glücklich.» Das Essen ist das Einzige, was sie in ihrem Leben noch kontrollieren kann. Sie klammert sich an diese Kontrolle und bestraft sich selbst für die Krankheit ihrer Schwester, indem sie auf das feine Essen verzichten muss. Sie ist das Böse und muss sich selbst und ihren Hunger besiegen.

Stress und Probleme in der Familie sind klassische Auslöser für Magersucht, erklärt Bettina Isenschmid. Die kleine Frau mit den blonden kurzen Haaren und dem Berner Dialekt leitet die Station für Essstörungen im Spital Zofingen. Dort, wo Maureen Lucas sich behandeln liess. «Familiäre Probleme sind vor allem bei den jungen Betroffenen häufig der Auslöser für Essstörungen.» Eine Therapie dauert in der Regel mindestens zwei Jahre, meistens noch länger. «Man kann es mit einem trockenen Alkoholiker vergleichen: Er trinkt zwar keinen Alkohol mehr, aber sobald ein Problem im Leben auftaucht, denkt er wieder ans Trinken.» Ähnlich geht es Magersüchtigen, die so versuchen, die Kontrolle über etwas im Leben zu behalten. «Magersucht ist eine Strategie, um sich selbst Sicherheit, Kontrolle und Halt zu geben in einer Situation, in der alles unkontrollierbar erscheint.» Sie sind zwar nicht mehr akut krank, aber das Risiko für einen Rückfall ist gross. Die besten Prognosen haben Betroffene, die sich im ersten Jahr der Krankheit behandeln lassen.

Die Abwärtsspirale

Maureen Lucas sagt, sie sei ihr ganzes Leben lang normalgewichtig gewesen. Mit 19 Jahren wiegt sie 65 Kilogramm, ein Gewicht, das sie schon lange hält. Nach dem Termin in der Barmelweid beginnt sie eine Diät, ernährt sich morgens nur von Früchten, mittags und abends von gedämpftem Gemüse. Ihre Eltern arbeiten viel und ahnen nichts von den Problemen ihrer Tochter. Den Hunger überlistet sie mit Kaugummis und Tees – ohne Zucker. Der Erfolg zeigt sich auf der Waage, je kleiner die Zahl, desto grösser der Ansporn. Als sie endlich unter 50 Kilo kommt, fühlt sie sich zum ersten Mal seit Monaten beflügelt vom Glück. Sie hats geschafft, endlich hat sie wieder etwas fest unter Kontrolle. Ihre Schwester hat sich zu diesem Zeitpunkt erholt. Trotzdem hört Maureen Lucas die Worte der Assistenzärztin noch genau in ihrem Kopf. Sie will verschwinden, für immer. Das Ziel ist nah. Nach drei Monaten wiegt sie 46 Kilo.

«Anfangs war es sehr schwierig», erzählt sie heute. Sie versucht, sich abzulenken, um nicht ans Essen zu denken. «Ich schlief sehr viel oder war einfach am Handy. Mein Körper war schlapp, ich konnte nichts mehr machen.» Nach einem stationären Aufenthalt ist ihre Schwester wieder gesund. Trotzdem hält Maureen Lucas an der Diät fest. «Ich war noch immer überzeugt, dass ich das Problem bin. Ich wollte sterben.» Diesen Selbsthass hat sie heute überwunden, erzählt sie. «Ich bin zwar nicht zufrieden mit meinem Gewicht, aber ich möchte auch nichts daran ändern. Ich möchte versuchen, mich so zu lieben, wie ich bin.» Das gelingt ihr meistens. Manchmal aber vermisst sie die Magersucht. «Da waren alle nett zu mir und das Leben war einfacher.»

Die Portionen werden noch kleiner. Das Frühstück lässt sie mittlerweile ganz weg, mittags isst sie eine Handvoll Cherrytomaten aus einem kleinen Tupperware. Sie besucht die Fachmittelschule in Aarau, ihren Mitschülern ist der Gewichtsverlust aufgefallen. Von Freunden darauf angesprochen lügt Maureen Lucas, dass sie vom Frühstück noch immer satt ist. Ihre Freunde bieten ihr etwas von ihrem Essen an, Pommes frites, einen Bissen vom Sandwich, den Rest Spaghetti Bolognese. Sie schüttelt den Kopf. «Ich versuche mich jetzt vegan zu ernähren», beschliesst sie. Das schränkt die Auswahl vom Essen deutlich ein und lässt ihre Freunde verstummen, sie muss sich nicht mehr mit ihnen treffen, vor allem nicht zum Essen. Denn Essen hat sie nicht verdient.

Das Umdenken

Fünf Monate sind nach dem Gespräch in der Barmelweid vergangen, seit fünf Monaten quält Maureen Lucas ihren Körper schon, indem sie ihm das Essen entzieht, als sie plötzlich nicht mehr schlafen kann. Ihr Körper hat sich verändert, sie friert ständig und an ihren Armen wächst ein dunkelbraunes Fläumchen, das den Körper, der keine Energie mehr hat, zu wärmen versucht. Ihre Wangen sind eingefallen, die runde schwarze Brille ist viel zu gross für ihr eingefallenes Gesicht. Ihre Haare trägt sie entweder hochgesteckt oder geflochten, um die kahlen Stellen auf dem Kopf zu verstecken. Sie hat keine Energie mehr, in der Schule hat sie Mühe, sich zu konzentrieren. Vom Schulsport wird sie ausgeschlossen, ihr Lehrer möchte nicht, dass sie noch mehr Gewicht verliert. Normalerweise ist sie nach einem Schultag so erschöpft, dass sie zu Hause gleich einschläft. Sie fühlt sich gestresst, aber gleichzeitig energielos, ist schnell genervt und niedergeschlagen und kann plötzlich nicht mehr schlafen. Prüfungen und Abgabetermine stressen sie so sehr, dass sie nachts nur noch zwei bis drei Stunden schläft. Sie bittet ihre Mutter, sie zum Arzt zu fahren, damit er ihr ein Schlafmedikament verschreiben kann. In der Klinik wird sie gewogen. 42 Kilogramm, noch zwei Kilo weniger und es wird lebensbedrohlich für sie.

«Meine Mutter hatte Tränen in den Augen, als sie die 42 auf der Waage las», erinnert sie sich. Sie spielt mit der weissen Decke zwischen ihren Fingern. Ihre Welt gerät ins Wanken. Sie hat ihre starke, unabhängige Mutter noch nie weinen gesehen. «Ich wollte ja verschwinden, damit sie wegen mir nicht noch mehr leiden müssen.» Ihr war nicht bewusst, dass ihre Magersucht ihren Eltern noch mehr Leid bescherte. «Ich war fest davon überzeugt, dass alles besser wird, wenn ich weg bin. Ich wollte meinen Eltern mit meinem Tod etwas Gutes tun.»

Es ist ein warmer Sonntag im März 2016, die Sonne scheint über Aarau, Maureen Lucas sitzt in einen Pullover gehüllt im «Starbucks» neben der Stadtbibliothek und wärmt sich die Hände am Porzellan von einem kleinen Soja Latte, ihre einzige Mahlzeit an diesem Tag. Ihre beste Freundin sitzt ihr gegenüber, Maureen Lucas ist still, sie hört ihrer besten Freundin nicht zu, nickt zwischendurch mal, um das Gespräch am Laufen zu halten. «Sag mal», unterbricht sie, «wäre es klug, wenn ich in Therapie ginge?» Sie ist unsicher, möchte noch immer sterben, aber sie möchte ihre Mutter nie wieder zum Weinen bringen. Sogar wenn das Sterben noch warten muss. Zusammen mit ihrer besten Freundin tätigt sie den schwierigsten Anruf ihres Lebens.

Die Therapie

Maureen Lucas hat kein Problem. Das wird sie der Therapeutin im Zofinger Spital so sagen. Sie reden mehr als eine Stunde zusammen, die Therapeutin versucht, Lucas’ Gedanken nachzuvollziehen. «Es geht darum, Dinge am Körper zu finden, bei denen sich Patient und Therapeut einig sind», erklärt Ärztin Bettina Isenschmid das Vorgehen. Kleine Fakten, die Magersüchtige ebenfalls sehen, beispielsweise dass die Rippen zu sehen sind oder man den Arm mit den Fingern umfassen kann. Denn die Betroffenen nehmen ihren Körper anders wahr. Maureen Lucas glaubt nach wie vor, dass sie nicht zu dünn ist. Die Therapeutin gibt ihr eine Schnur. Damit soll sie schätzen, wie gross der Umfang ihrer Arme, Hüften und Beine ist. Anschliessend wird nachgemessen. «Ich war schockiert, wie dünn meine Arme tatsächlich waren. Sie waren so breit wie mein Handgelenk heute, ich konnte sie mit meinen Fingern umfassen.» Ihr kommen die Tränen, als sie realisiert, was sie sich selbst angetan hat. Und sie fragt sich: Gibt es noch mehr Dinge an meinem Körper, die ich nicht sehe?

«Wir als Aussenstehende sehen, dass jemand abgemagert ist, aber die betroffene Person nimmt das ganz anders wahr, sie sieht sich im Spiegel anders, beispielsweise zehn Kilogramm dicker», erklärt Bettina Isenschmid. «Das ist eine Erkenntnis, die man im Verlauf einer Therapie aufbauen muss. Diese Fehleinschätzung vom eigenen Körper wird immer stärker, umso dünner jemand ist. Die Wahrnehmung im Gehirn verändert sich so, dass die Realität nicht mehr richtig eingeschätzt werden kann.» Die Therapie setzt sich aus drei Teilen zusammen: Körperwahrnehmung, Essverhalten und Psychotherapie. Denn zu den körperlichen Folgen kommen psychische. «Ängste, eine Kontrollsucht, Niedergeschlagenheit und Konzentrationsstörungen kommen sehr häufig vor», erklärt Isenschmid. Ausserdem müssen die Auslöser für die Krankheit gefunden und verarbeitet werden.

Für Maureen Lucas beginnt der wohl härteste Kampf ihres Lebens. Einmal pro Woche geht sie nach Zofingen. Psychotherapie, Ernährungsberatung und Körperwahrnehmung gehören fest zu ihrem Leben. Sie muss wieder zunehmen und lernen, sich selbst zu lieben. Anfangs ist jeder weitere Bissen eine Überwindung, ihr wird schnell übel, wenn sie zu viel isst. Ihr Magen ist zusammengeschrumpft, er muss sich erst an die grösseren Portionen gewöhnen. Manchmal möchte sie alles wieder hinschmeissen, das Zunehmen ist schwierig. Dann denkt sie an ihre Mutter. Sie will es für sie tun. «Ein Freund sagte mir in der Schule ‹Dänksch dra, du machsch es für dich›. Das hat mich sehr berührt und mich motiviert.» Trotzdem fühlt sie sich nicht wohl, wenn ihr ihre Kleider plötzlich nicht mehr passen. Immer wieder betrachtet sie sich im Spiegel, sieht die Fettpölsterchen am Bauch, die immer grösser werden. «Das muss so sein», versucht sie sich einzureden. Vor allem muss sie lernen, ihre Probleme nicht übers Essen zu lösen. Sie beginnt zu malen. Es scheint alles gut zu laufen. Doch sie hat Stress in der Schule, sie streitet sich mit ihren Eltern, das Malen hilft ihr nicht schnell genug. Sie kann sich nicht fokussieren. In ihrer Verzweiflung schnappt sie sich eine Rasierklinge und setzt sie an ihren Arm. Erst als das Blut fliesst, fühlt sie sich erleichtert, sie kann ihren Schmerz darauf fokussieren. Schlagartig wird ihr bewusst, was sie getan hat. Sie ruft ihre Therapeutin an, sie treffen sich am nächsten Tag. Ein Rückschlag, sie muss weiter nach einem Weg suchen, um mit den Problemen umzugehen. Nur welchen?

Das war vor vier Jahren. Auf dem Tisch neben dem Sofa liegt ein Heft mit Zeichnungen, Blumen, Gesichter und Mandalas, die meisten mit Bleistift gemalt. Auf dem Laptop hat sie Bilder gespeichert mit Tattoos, die sie sich gerne stechen lassen würde. Die Kunst ist für sie zum Anker gegen Stress geworden. «Manchmal, wenns mir schlecht geht, kommen die Gedanken wieder. Dass ich wieder abnehmen könnte, damit die Menschen wieder netter zu mir sind. Es ist nicht einfach, aber ich versuche mich auf das Gute im Leben zu konzentrieren. Aber diese Gedanken werden mich immer verfolgen.» Offiziell ist sie gesund.


Diplomarbeit

Dieses Porträt ist die Diplomarbeit von Chantal Gisler, die ihre Ausbildung an der Journalistenschule MAZ in Luzern damit beendet. Während drei Jahren wurde sie zur Journalistin ausgebildet. Ihre praktische Ausbildung erhielt sie bei dieser Zeitung. Die Arbeit wird von der Journalistenschule bewertet.


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