«Noch keine Selbstverständlichkeit»

  12.02.2021 Region Wohlen

Vor 50 Jahren wurde das Frauenstimmrecht in der Schweiz eingeführt – Gedanken dazu von Frauen aus der Region

Am 7. Februar 2021 war es 50 Jahre her, dass Frauen hierzulande das Stimm- und Wahlrecht erhalten haben. Für ihre politischen Rechte mussten die Frauen einen jahrzehntelangen Widerstand überwinden. Wie sieht die Gleichstellung heute aus? Wo sehen die Frauen die zukünftigen Herausforderungen?

Sabrina Salm

Wie ein Blick ins Archiv dieser Zeitung zeigt, hatte das Frauenstimmund -wahlrecht im Freiamt einen schweren Stand. Nicht überraschend war das Resultat der Freiämter Bezirke. Im Bezirk Muri wurde die kantonale Vorlage nur in Benzenschwil mit 33:27 Stimmen angenommen, während die eidgenössische in keiner Gemeinde Gnade fand. Im Bezirk Bremgarten stimmten sieben Gemeinden dem kantonalen Frauenstimmrecht zu: Bremgarten, Dottikon, Oberwil, Rudolfstetten-Friedlisberg, Widen, Wohlen und Zufikon. Hilfikon brachte nur 1 Ja dafür auf, 31 stimmten dagegen. Die eidgenössische Vorlage wurde in fünf Gemeinden angenommen: Berikon, Bremgarten, Widen, Rudolfstetten und Zufikon. In Oberwil stimmten 66 Ja und 66 Nein.

Beschwerden aus dem Freiamt

Einige konnten den Entscheid nicht akzeptieren und reichten beim Bundesgericht in Lausanne eine Staatsrechtliche Beschwerde gegen die eidgenössische Abstimmung über das Frauenstimm- und -wahlrecht ein. Zwei davon sind aus dem Freiamt gekommen: eine aus Oberrüti und eine aus Wohlen. Zehn Jahre später wurde die Abstimmung über die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Mann und Frau» angenommen. Knapp nahm der Bezirk Bremgarten die Vorlage an, stark verworfen hat der Bezirk Muri. Als einzige Gemeinde stimmte Waltenschwil zu. In Buttwil waren es 46 Ja und 47 Nein.

«Frauenfeindlichkeit» schockt heute noch

Heute fast unvorstellbar. Dabei ist das erst 50 beziehungsweise 40 Jahre her. Sechs Freiämterinnen haben sich Gedanken zum Thema «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz», zum Frausein und den Herausforderungen für die Gleichstellung gemacht. Wie «frauenfeindlich» die Schweiz damals war, schockt Nadine Zuber aus Muri. Sie ist einer der wenigen Präsidentinnen eines Sportvereins. Auch aus dem Sport kommt die Bremgarterin Sheila Loosli. Die ehemalige Fussballnationalspielerin ist froh, dass sich in den letzten 50 Jahren einiges getan hat. Dankbar für ihre Freiheit ist die junge Murianerin Hannah Dobbertin, die als selbstständige Regisseurin und Produktionsassistentin bei einer Filmproduktionsfirma arbeitet. Die Sängerin Ursula Bellwald, besser bekannt als Sina, sagt, Frauen müssen im Beruf oft mehr beweisen. Die ehemalige Nationalrätin Katrin Kuhn aus Wohlen musste sich in ihrer politischen Laufbahn Beschimpfungen gefallen lassen, worüber sie heute lachen kann. Bettina Fischer aus Dottikon, Präsidentin Soroptimist International Club Bremgarten-Freiamt, wünscht sich für die Frauen in Bezug auf die noch fehlende Gleichstellung, «dass wir nicht jammern und lamentieren, sondern mit Selbstbewusstsein und den bisher gemachten Erfahrungen faire und vorbildliche Diskussionen führen».


Sina, 54, Fahrwangen, Sängerin

Ich weiss noch, wie tief mich das Buch von Iris von Roten «Frauen im Laufgitter» aus dem Jahre 1958 beeindruckte. Sie verlangte radikal, dass Frauen arbeiten, ein selbstbestimmtes und auch sexuell unabhängiges Leben führen können. In den 1950er-Jahren war dies eine revolutionäre Forderung. Leider sind wir aber auch heute noch weit entfernt von einer gelebten Gleichberechtigung. Dafür werden wir uns auch in Zukunft mit allen Kräften einsetzen müssen.

Meine Erfahrung ist, dass sich Frauen im Beruf oft mehr beweisen müssen. Weitere Stichworte sind unbezahlte Hausarbeit, Sexismus, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das schlechte Angebot an Kinder- und Altenbetreuung. Ein Beispiel: Die Musikindustrie wirkt nach aussen modern und cool, in Wahrheit ist sie seit Anfang an männlich geprägt. Die meisten Entscheider sind Männer und fragen ihresgleichen. Das führt dazu, dass nur 12 Prozent Frauen auf Schweizer Festival-Bühnen stehen. In diesen Schaltzentralen fehlt zum Teil das Bewusstsein für dieses Ungleichgewicht. Das ist natürlich nicht nur in der Musik so und darum müssen wir Frauen uns unbedingt für unsere Bedürfnisse stark machen.

Das Schöne am Frausein ist die Sinnlichkeit, das Muttersein, Frauenfreundschaften, weibliche Stärke und Intuition. Ich wünsche mir mehr Selbstbewusstsein, mehr Führungspositionen und dass gelebte Gleichstellung nicht nochmals 50 Jahre dauert.

Bettina Fischer, 50, Dottikon, Präsidentin Soroptimist International Club Bremgarten-Freiamt

Die Herausforderung Frau zu sein ist einerseits, sich nicht mit den Männern zu vergleichen oder sich ihnen gleichmachen zu wollen – sich nicht auf einen Kampf mit dem anderen Geschlecht einzulassen, sondern das Selbstverständnis als Frau und die eigene Weiblichkeit hervorzustreichen und beizubehalten – und gleichzeitig mit Cleverness das bisher entstandene Fundament der Gleichberechtigung weiter auszubauen. Mit Hartnäckigkeit und Herz Lösungen und Wege suchen für die noch bestehenden Diskrepanzen, insbesondere in der Geschäftswelt.

Anderseits müssen sich Frauen noch mehr selber wehren gegen die Gewalt, die ihnen und anderen Frauen widerfährt. Im Klartext, jede dritte Frau wird geschlagen, verletzt oder vergewaltigt. Frauen verdienen und brauchen besseren Schutz. Es fehlen Beratungsstellen. Noch verfügen nicht alle Kantone über ein Frauenhaus. Wie wichtig diese Einrichtungen sind, zeigte sich sehr akut in Zeiten von Corona. Wir von Soroptimist International setzen uns mit grossem Engagement gegen Gewalt an Frauen ein, wie es unzählige, starke Frauen für das Frauenstimmrecht auch getan haben.

Das Jubiläum soll gefeiert werden, mit Rückblick auf was es alles bis im Jahr 1971 gebraucht hat, um das Frauenstimmrecht durchzubringen. Die Demokratie wurde zuvor nicht wirklich gelebt. Es bleibt noch vieles zu tun.

Nadine Zuber, 29, Muri, Präsidentin TV Lunkhofen

Ich bin jedes Mal aufs Neue erstaunt, wenn mir bewusst wird, dass Frauen erst seit 50 Jahren das Recht haben, abzustimmen. Wenn ich dann noch die damaligen Wahlplakate des Nein-Lagers sehe, bin ich sogar geschockt, wie frauenfeindlich die Schweiz damals zum Teil war. Ich selber spüre heute zum Glück nur selten etwas davon, auch wenn ich mich beruflich immer noch in einer eher männerdominierten Branche (IT-Branche für die Nutztierhaltung) befinde. Trotzdem weiss ich, dass es für viele Frauen noch keine Selbstverständlichkeit ist, ein Leben zu leben, wie ich es leben darf, und darum bin ich sehr dankbar dafür und wünsche mir das für jede Frau.

Sheila Loosli, 50, Bremgarten, Polizistin

Der 7. Februar 1971 war für mich ein spezieller Sonntag. Ich kam nämlich auf die Welt. Ich wurde also exakt an dem Tag geboren, als die Schweiz sich für die Gleichberechtigung von Frau und Mann entschieden hat.

Und es hat sich einiges getan in den letzten 50 Jahren. Eine Frau im Polizeiberuf wäre undenkbar gewesen, heute ist es normal.

Ich wünsche mir für die Frauen, dass sie sich in der Geschäftswelt noch ein bisschen mehr zutrauen. Es braucht noch mehr Frauen in Führungspositionen.

Katrin Kuhn, 67, Wohlen, ehem. Grüne Politikerin

Als das Frauenstimmrecht angenommen wurde, war ich 17 Jahre alt und freute mich, jetzt sei alles gut. Mit 37 war ich im Grossen Rat und in einer Arbeitsgruppe, die ein Gleichstellungsbüro vorbereitete, und es gab Männer und auch Frauen, die mich deshalb als «Männerhasserin» bezeichneten. Ausserdem bekam ich Post und Telefonanrufe mit ganz ungewohnten Anreden, eine der originelleren war «Du Schwanzlurch ohne Schwanz» (umgangssprachlich Molchea Anm. der Redaktion). Mit 47 war ich für ein Jahr im Nationalrat, wo an einem Frauentreffen ältere Politikerinnen erzählten, wie sie ihre Kandidaturen und Gleichstellungsaktivitäten nur mit viel Polizeischutz geschafft hätten. Jetzt bin ich 67, lache über den «Schwanzlurch» und begleite immer noch gerne Frauen beim Einstieg in die Politik. Übrigens: Hätten Sie vielleicht Lust auf ein Gespräch über Ihre politischen Interessen?

Hannah Dobbertin, 21, Muri, Regisseurin

Meistens wundere ich mich, wie das Leben der Frauen vor 50 Jahren noch so stark von ihren Männern abhängig sein konnte und bin dankbar für meine Freiheit. Doch immer mehr fallen mir Dinge auf, die mich daran erinnern, dass die Gleichstellung ein noch immer währender Kampf ist. Die Filmbranche, in die ich eben erst meinen Fuss gestellt habe, ist zwar nicht mehr so männerlastig wie früher, ist jedoch noch immer geprägt von einem gewissen Machismo. Ich wünsche mir, dass dieser mit jeder Frau, welche die Filmwelt betritt, ein wenig schrumpft, bis er schliesslich gänzlich verschwinden und einem grossen Topf an Kreativität und Kreationen weichen kann.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote