Sie steht für ihr Recht ein
18.08.2020 BoswilSommerserie «Starke Frauen»: Die gebürtige Boswilerin Isabelle Küchler
Im Kleinkindalter erkrankte Isabelle Küchler schwer an der juvenilen Polyarthritis. Die Folgeerscheinungen zwingen sie, ein Leben im Rollstuhl zu führen. Trotz Einschränkungen lässt sich die aufgestellte Frau von nichts aufhalten.
Celeste Blanc
«Ein ganz grosses Highlight während meines Studiums an der Universität in Fribourg war, als mir der Kauf eines eigenen Autos ermöglicht wurde», erzählt Isabelle Küchler. Wie für viele junge Leute war auch für sie das erste Auto ein grosser Schritt in die Unabhängigkeit, wobei das erste Auto für Küchler eine ganz spezielle Bedeutung hatte. «Von da an war ich so unabhängig wie nie zuvor. Ich genoss es, selber entscheiden zu können, wann und wohin ich fahren möchte, und nicht auf die Familie oder Freundinnen angewiesen zu sein», so Küchler.
Alltäglichkeiten grenzen ein
Der 37-jährigen Rollstuhlfahrerin ist es enorm wichtig, selbstständig zu leben und möglichst nicht von der IV abhängig zu sein. Doch der Alltag stellt die Logopädin immer wieder vor Herausforderungen. Viele Verrichtungen dauern einfach länger oder bedürfen zum Teil minutiöser Planung. «Ich kann nicht einfach mal eben irgendwohin fahren und beispielsweise in Zürich eine Buchhandlung aufsuchen», so Küchler. Auch bei alltäglichen Dingen stösst sie oft an Grenzen. Beispielsweise, wenn sie ein Parkbillett bezahlen möchte, aber nicht an den Geldschlitz kommt, oder wenn es vor Geschäften keine oder nicht genügend breite Rollstuhlparkplätze gibt. «Es schränkt einfach enorm ein», so Küchler, «zwar weiss man in der Gesellschaft darum und ist sensibilisiert. Dennoch gibt es leider noch viele solche Hürden.» Isabelle Küchler setzt sich stets für ihre Rechte ein und meldet solche Umstände umgehend den zuständigen Stellen und Behörden. «Vieles hat sich in den letzten Jahren sehr gebessert», so die Boswilerin, «dennoch gehen solche Gleichstellungen für Rollstuhlfahrer eher langsam vorwärts.»
Eine Powerfrau auf vier Rädern
Sommerserie «Starke Frauen»: Die Rollstuhlfahrerin Isabelle Küchler aus Boswil
Mit 16 Monaten erkrankt Isabelle Küchler so schwer, dass sie fortan auf den Rollstuhl angewiesen ist. Doch trotz den Einschränkungen und Hürden im Alltag verfolgt die gebürtige Boswilerin stets hartnäckig ihre Ziele. Heute hilft sie als Logopädin Kindern mit Sprachfehlern und ist Betriebsleiterin einer Trüffelfarm.
Celeste Blanc
«Eine meiner schönsten Reisen war diejenige nach Japan. Das war mein absolutes Highlight.» Isabelle Küchlers Augen funkeln und sie gerät ins Schwärmen, wenn sie von ihrer Reise ins Land der aufgehenden Sonne erzählt. Bereits zweimal war die 37-Jährige dort. Dass sie im Rollstuhl sitzt, hält die Boswilerin, die seit rund 10 Jahren in Muri wohnt, nicht vom Reisen ab. Ganz im Gegenteil – sie beweist sich immer wieder aufs Neue, dass sie das scheinbar Unmögliche trotzdem packt. Nebst ihren Reisen in alle Teile der Welt geht sie auch mal helikopter- oder segelfliegen oder macht mehrtägige Veloferien am Bodensee. «Ich bin schon der ‹gwundrige› Typ und möchte etwas erleben», zwinkert Küchler, «aber ich habe natürlich auch Grenzen, die ich akzeptieren muss.»
Drei schmerzvolle Jahre
Nicht immer war Isabelle Küchler auf den Rollstuhl angewiesen. Als zweites von fünf Kindern ist sie ohne Komplikationen zur Welt gekommen. Als sie jährig war, machte sie sogar ihre ersten Schritte. Ein halbes Jahr später dann der Schreck – plötzlich erkrankte das damals 16 Monate alte Mädchen an schwerem Fieber und litt grosse Schmerzen. Doch die Abklärungen beim Arzt und später im Spital ergaben zunächst kein Ergebnis. «Erst nach zwei, drei Wochen erkannte man, dass ich an der juvenilen Polyarthritis litt», erzählt sie. Eine Gelenkskrankheit, die im Kindesalter ausbricht und Entzündungen in allen Gelenken hervorruft. Es folgten für Isabelle Küchler und ihre Eltern drei schwierige Jahre, in denen sie von Schmerzen und mehreren Spitalaufenthalten geplagt war. Alle Versuche, die Entzündungen zu hemmen, schlugen fehl. «Über die lange Zeit hatte ich zudem eine extreme Schonhaltung eingenommen, sodass sich die Sehnen und Muskeln in den Beinen verkürzten», so die 37-Jährige.
Mehrmals die Woche Therapie
Erst die Behandlungen beim Homöopathen brachten Fortschritte und machten sie schmerzfrei. Die Folgeerscheinungen wie Gelenkdeformationen, Versteifungen und Kleinwüchsigkeit blieben aber bestehen und von nun an war sie auf den Rollstuhl angewiesen. Im Alter von 9 Jahren folgten zwei Operationen an Hüft- und Kniegelenken mit dem Ziel, wieder laufen zu lernen. Die Eingriffe verliefen gut, jedoch nicht so erfolgreich wie erhofft. Die vollständige Streckung der Beine gelang nicht. «Seither muss ich mehrmals die Woche in Therapie», erzählt Küchler. Trotz dem Rollstuhl setzten sich ihre Eltern dafür ein, dass ihre Tochter ganz normal den Kindergarten und die Schule in Boswil besuchen konnte. «Die Schule war sehr entgegenkommend. Meine Klasse hatte von da an im Erdgeschoss Unterricht», erinnert sie sich zurück, «und ich bin wirklich sehr dankbar, dass ich in meinem Dorf zur Schule gehen konnte.» Es folgte die Bezirksschule in Muri, ein zweijähriger Sprachaufenthalt in Estavayer-le-Lac und die Matura am Gymnasium Immensee. Nach dem Abschluss zog sie mit ihrer Kollegin in eine WG nach Fribourg, um an der dortigen Universität das Logopädie-Studium zu absolvieren.
Legal frisiertes Töfli
Für Isabelle Küchler war es stets wichtig, möglichst selbstständig zu sein. Für sie ist klar: «Das habe ich auch meinen Eltern zu verdanken. Sie haben sich stets darum bemüht, dass ich eigenständig sein kann und normal aufwachse.» Zu den schönsten Momenten zählt für die Powerfrau, als sie ihren Schulweg in die Oberstufe Muri mit dem Elektrotöff fahren konnte. Die Herstellerfirma Kyburz liess Tests bei der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) durchführen und erhielt die Bewilligung, das Töffli legal zu «frisieren». «Ein Glück. So erreichte ich innert 10 Minuten und mit rund 30 km/h Muri», lacht die sympathische Frau, «sonst wären es 30 Minuten gewesen.» Als sie durch ihr Studium nach Fribourg zog, pendelte sie im ersten Jahr an den Wochenenden mit dem Zug nach Boswil. Diese Form der Mobilität war für die damalige Studentin eine wahre Herausforderung. «Für mich war das jedes Mal eine halbe Weltreise, zumal damals noch nicht alle Bahnhöfe rollstuhlgängig waren», erinnert sie sich.
Durch die Unterstützung ihres Partners, ihrer Familie und ihrer Freunde ist es Küchler möglich, seit Abschluss ihres Studiums alleine zu wohnen. Trotz breiter Unterstützung stellt der Alltag sie aber immer wieder vor Hürden. Bekommt sie Hilfe beim Ticketautomaten, um das Geld einzuwerfen? Gibt es eine Rampe oder doch Stufen zwischen Parkplatz und Laden? Ist der Weg gepflastert oder geteert? Bei jedem Vorhaben muss Küchler diese und viele weitere Fragen berücksichtigen.
Nicht unterkriegen lassen
Spontane Vorhaben sind da nicht immer möglich und sie ist schnell von anderen Menschen abhängig. «Es gibt Momente, in denen ich wütend werde, weil bei mir alles immer komplizierter und aufwendiger ist als bei anderen», gesteht sie, «dann hilft es mir, an alle positiven und schönen Erinnerungen zu denken. Ich habe bis jetzt wirklich vieles erleben dürfen.» Trotz solcher Momente ist die Boswilerin eine Kämpferin, die immer ihren Weg findet. So auch, als sie vor dem Gymnasium eigentlich das Lehrerseminar machen wollte. Trotz bestandener Aufnahmeprüfung wurde sie nicht zum Lehrerseminar zugelassen: «Die Begründung war, dass sie sich mich nicht vor einer Klasse vorstellen konnten, weil ich im Rollstuhl sitze.» Dieses Urteil enttäuschte Küchler sehr. Doch der feste Wunsch, mit Kindern zu arbeiten, trieb sie weiter an. Nach erfolgreichem Abschluss des Logopädie-Studiums arbeitet sie bereits seit 11 Jahren mit Kindern zusammen. Und als wäre das für die Powerfrau noch nicht genug, leitet sie zusätzlich noch den Familienbetrieb «Kohlacker Trüffel». Dafür drückte sie mit 29 Jahren nochmals die Schulbank und absolvierte die Landwirtschaftsausbildung im Nebenamt. Nebst Administration und Marketing mäht sie auch mal den Rasen auf der Plantage: «Es ist für mich ein idealer Ausgleich zum logopädischen Alltag.» Jetzt im August läuft die Arbeit auf der Trüffelfarm auf Hochtouren. Zurzeit ist Küchler voll in der Vermarktung der Produkte eingespannt: «Anfang August haben wir die erste Trüffel von diesem Jahr gefunden – das heisst, die Saison kann beginnen.»