Auferstehung 2.0

  01.04.2021 Traditionen

Was würde Jesus wohl denken, wenn er 2021 bei uns im globalen Norden von den Toten auferstehen würde?

Das Grab war leer. Anstatt einer einbalsamierten Leiche lag bloss noch ein weisses Leinentuch auf trockener Erde. Von Jesus, Sohn Gottes, keine Spur. Doch er war wieder da, drei Tage nach seiner Kreuzigung, in Leib und Seele. Am Ostersonntag war er von den Toten auferstanden. Und Jesus versprach für immer weiterzuleben.

Angenommen, diese sagenhafte Auferstehung wäre jetzt: Was würde Jesus denken, wenn er in diesem Jahr, am Ostersonntag, in die Welt treten würde? Was wäre seine Nachricht?

Melanie Wirz

Masken, Schokolade und Influencerinnen

Als Erstes würde er in unsere Gesichter blicken und sich wohl fragen, weshalb wir sie mit Masken bedecken. Er wäre neugierig, was sich darunter verbirgt – strahlende Münder oder doch eher zaghaft hängende Mundwinkel? Er würde es nicht erfahren. Denn nur wenige würden mit ihm sprechen, viele ihn wohl gar nicht erkennen.

Als Zweites wäre Jesus verdutzt. In Supermärkten würde er Regal um Regal voller Hasen, Enten, Eier aus Schokolade vorfinden. In Weiss, Schwarz, milchig Braun. Aneinandergereiht wie Zinnsoldaten, gehüllt in Plastik. Und dann würde er begreifen, dass wir Ostern, seine Auferstehung, das wichtigste Fest im Christentum, mit der Suche nach Schokolade im Garten feiern. Es könnte wohl schlimmer sein.

Mit Blick auf ein Smartphone würde Jesus schliesslich staunen. Junge Frauen und Männer tummeln sich im Internet, in den sozialen Medien. Sie werden verherrlicht – wie einst er selbst. Nur haben diese Menschen über eine Million von Follower, während es bei ihm nur deren zwölf waren. Ob er neidisch wäre?

Mit dieser mächtigen Reizüberflutung der heutigen Welt würden sich ihm Hunderte Rätsel, Abgründe, Novas eröffnen. Oder tausende.

Was würde Jesus heute über den Konflikt der Israeli und der Palästinenser sagen? Was über die ertrinkenden Menschen im Mittelmeer? Über die Sturheit und Ohnmacht der Europäischen Union? Was würde er dem Papst predigen? Was den christlichen Anhängern von Donald Trump und welche Worte würde er wählen, hätte er eine Begegnung mit Andreas Glarner?

Könnte er, selbst als Jude geboren und gestorben, Opfer von rechter Gewalt und Antisemitismus werden? Hätte Jesus Sympathien für gendergerechte Sprache? Für Feminismus und die Forderung nach Gleichstellung? Würde er den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen gutheissen? Es ist logisch unmöglich, Antworten zu geben. Eine Prognose aber liegt drin: Jesus würde vor allem eine Welt vorfinden, die ihm im Grundsatz bekannt vorkäme.

Die Geschichte wiederholt sich

Gottes Ziel war es, die Welt zu heilen. Das Hauen und Stechen zu beenden, die Menschen zu vereinen. So würde alles gut werden. Doch knapp 2000 Jahre später sähe sein Sohn: Nichts ist gut. Es sollte keine Armen geben. Doch es gibt sie. Es sollte kein Unrecht geben, aber Unrecht ist allgegenwärtig. Krieg und Elend sollten verbannt werden. Die Welt ist voll davon.

Mit Besorgnis würde Jesus heute zu den Trümmerhaufen in Damaskus schauen, ummantelt mit einem Gefühl von Traurigkeit. Er sähe gierige Machthaber, die ihrem Volk nichts Gutes wollen, die ihre Bürgerinnen und Bürger töten und vertreiben. Als Folge davon würde er Millionen von Menschen auf der Flucht sehen. In Bangladesch, Bosnien, Griechenland. Er sähe Tote an den Aussengrenzen der EU. Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, weil sich niemand für sie einsetzt. Weder die Staaten der Europäischen Union noch die Schweiz. Er würde den Begriff des Rechtsstaates zwar kennenlernen, sein Vertrauen in ihn wäre jedoch gering.

Jesus aber hätte Verständnis für die Menschen, denen nichts anderes übrig bleibt, als zu fliehen. So erging es ihm selbst kurz nach seiner Geburt. Maria und Josef mussten mit ihm vor der tödlichen Gewalt Herodes’ nach Ägypten fliehen. Auch deshalb ist Jesus zur Hoffnung aller geworden, die aus ihrer Heimat vertrieben werden.

Demokratie oder Diktatur?

Jesus brachte seinen Weggefährten stets Akzeptanz entgegen. Er würde uns daran erinnern, dass «jedes Reich, das in sich gespalten ist, zugrunde geht» und würde mit scharfem Finger auf uns alle zeigen. Denn Spaltung wäre das, was er bei uns in der Schweiz beobachten würde. Eine Gesellschaft, die mit Andauern der Coronapandemie immer mehr auseinanderdriftet. Menschen, die Andersdenkenden mit blankem Unverständnis begegnen.

Wir würden ihm erklären, was diese Zeit mit uns macht. Dass wir oft einsam sind. Traurige und nur manchmal noch spannende Tage erleben. Dass wir wütend sind und uns wünschen, es wäre gar nie so weit gekommen. Jesus von Nazareth würde uns zuhören. Er würde uns aber ermahnen, dass jedes Leid und jede noch so grosse Wut nicht rechtfertigt, dass wir einen Keil zwischen uns treiben lassen. Zwischen Massnahme-Befürworterinnen und -Gegner. Zwischen jene, die das Virus verharmlosen und jene, die in Krankenhäusern an vorderster Front kämpfen. Bei jedem bürgerlichen Schrei nach Diktatur würde er uns daran erinnern, dass wir in einem der freisten Länder der Welt leben. Freier, als er es in Jerusalem jemals war.

«Liebe deinen Nächsten»

Hätte er sein letztes Abendmahl bei uns verbracht – sofern er ein geöffnetes Restaurant finden würde –, hätten an Jesu Tisch alle einen Platz gefunden. Dicke und Dünne, Reiche und Arme, Christen und Musliminnen. Sozialdemokraten genauso wie Liberale. Arsi Perroud, Hampi Budmiger, Raymond Tellenbach, aber auch Jean-Pierre Gallati. Jesus hätte für alle einen Stuhl. Denn er nahm die Menschen an, wie sie waren. «Denn nur, wer sich vom anderen angenommen weiss, hat Ohren, um zu hören, was ihm der andere zu sagen hat.»

Jede Person dürfte Brot und Wein kosten und müsste darauf achten, dass nichts übrig bleibt. Denn Jesus wäre kein Freund von Foodwaste. Bereits seinen Jüngern befahl er, als sie fünf Brot und zwei Fisch an 5000 Menschen verteilten, alle übrigen Brotsamen aufzusammeln, «damit nichts umkommt.» Er hatte Respekt vor der Schöpfung und würde uns in der Schweiz sagen, dass eine Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle pro Jahr nicht vorbildlich seien.

Jesus würde uns raten, nicht nur an uns selbst zu denken. Er würde das sagen, worauf wir die ganze Zeit schon mit Ehrfurcht gewartet haben: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Wir würden ihm entgegnen, dass wir das bereits täten, und liessen ihn auf unser Facebook-Profil spienzeln: 706 Freunde. Jesus würde zwar ungläubig den Kopf schütteln, wäre aber auch erleichtert. Weil er eine Welt vorfinden würde, die ihm zwar bekannt vorkäme. Aber auch eine, die ihm imponiert.

Er wäre fasziniert von der vernetzten Welt und würde feststellen, dass sich die Menschen weltweit – nicht nur digital – nähergekommen sind. «Liebe deinen Nächsten» funktioniert nämlich tatsächlich. Er sähe, dass es kulturellen Austausch gibt, der viel mehr ist als All-inclusive-Urlaub. Er würde sehen, dass es in Zeiten von Krieg, Bredouille und Pandemie auch Solidarität gibt. Von Jesus gäbe das sicher ein «Gefällt mir».

Die Rolle der Frau würde Jesus weiter stärken, da auch sein Leben geprägt war von starken Frauen. Zum Beispiel von Maria Magdalena, seiner Begleiterin, einer vermeintlichen Sünderin. Gleichstellung würde von ihm nicht belächelt. Den Feministinnen würde er mit geballter Faust der Solidarität entgegentreten – statt mit Gummischrot und Tränengas. Gendern fände er wahrscheinlich nur halb so schlimm wie die Anhängerinnen und Anhänger der bürgerlichen Parteien, die sich lauthals darüber echauffieren. Jesus würde ihnen sagen, dass jeder Mensch eine Stimme hat und Gehör finden soll. Furchtlos solle man sein, predigte er schon immer. Und nie mundtot, so seine Botschaft.

Wir können alles – ausser über Wasser laufen

Begeisterung würde seine Augen leuchten lassen, wenn er sähe, was für eine moderne Welt wir geschaffen haben. Eine, in der wir sicher sind. Wo wir Wasser – und Wein – trinken können, wann immer wir wollen. Wo wir Licht im Dunkeln haben, wenn wir es brauchen. Wo wir Fahrrad, Auto, Bahn und Schiff fahren dürfen. Nur über Wasser laufen, das können wir nicht.

Wenn Jesus tatsächlich heute auferstehen würde, wären es vielleicht einige dieser Beobachtungen, die er machen und einige dieser Botschaften, die er uns vermitteln würde. Oder ganz andere. Er nähme uns auf jeden Fall vereint an der Hand, würde fest zudrücken und sagen, dass es Hoffnung gibt. Dass es immer neue Anfänge gibt. Wir dürfen nur nicht die Augen davor verschliessen.

Die Autorin. Melanie Wirz, aufgewachsen in Villmergen, war von 2012 bis 2016 Redaktorin dieser Zeitung. Zuletzt arbeitete sie für den «Beobachter».


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