BRIEF AUS FLORIDA
06.11.2020 WahlenJoe Huber, Fort Myers.
Zu einer dritten Partei wechseln
Das Positivste über die Wahlen sei vorweggenommen: Wir Floridianer haben offenbar aus den vergangenen Debakeln gelernt und waren diesmal mit dem Auszählen der Wahlzettel sehr schnell und genau. Wir haben doch nicht so schlechte Systeme wie andere Staaten, wo sie immer noch am Auswerten sind. Und das im Land, wo, so scheint es, schon vor vielen Jahren der Computer erfunden wurde.
Es wird noch eine Weile dauern, bis wir das Endresultat haben (Stand Donnerstag). Es sieht ganz danach aus, dass es sehr knapp sein wird. Das würde bedeuten, dass dort, wo die Marge 0,5 Prozent oder weniger ist, nachgezählt werden muss. Auch wird ein äusserst knappes Resultat von der Verliererseite juristisch angegriffen werden. Dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. So oder so ist klar, dass wieder mal alle Umfragen im Vorfeld total falsch waren. Denn da ist gar nichts zu sehen von einem «fast uneinholbaren Vorsprung von Biden». Das ist für mich eine klare Bestätigung, dass man diesen Umfragen nicht den geringsten Glauben schenken kann.
Auch wenn Biden letztendlich gewinnen sollte, müssen die Demokraten über die Bücher. Die letzten News deuten darauf hin, dass sie es nicht schaffen, den Senat zu erobern, und auch noch einige Sitze im Repräsentantenhaus verlieren, aber dort immerhin die Mehrheit behalten. Ich glaube, dass dies das Resultat einer fehlenden Strategie ist. «Trump muss weg» ist eines. Aber gleichzeitig zu sagen, dass man die Steuern massiv erhöhen will und geschätzten elf Millionen «undokumentierten» (ein politisch korrektes Wort für illegale) Einwanderern die Green Card (Niederlassung C in der Schweiz) zu schenken, ist was anderes. Ein anderer Grund für den verpassten Erdrutschsieg, also das viel bessere Abschneiden von Trump als vorausgesagt, ist, dass Biden nur noch halb so scharf und angriffig ist, wie er mal war. Und sollte ihm etwas zustossen, würde Kamala Harris übernehmen. Ihr eilt der Ruf voraus, dass sie auf der sehr liberalen, eher sogar radikalen Seite der Demokraten steht. Meine Meinung ist, dass der durchschnittliche Amerikaner, unabhängig von seiner Parteizugehörigkeit, eigentlich ein konservativer Mensch und (noch) nicht bereit ist, komplett links regiert zu werden. Ebenfalls ist Amerika immer noch ein kapitalistisches Land, wo die Leute halt mehrheitlich das $-Zeichen in den Augen haben. Das ist einfach so. Ob das richtig oder falsch ist, ist eher ein Thema für eine Stammtischdiskussion. Von vielen habe ich gehört, dass sie – eigentlich widerwillig – Biden die Stimme gegeben haben. Einfach, um Trump eine solche wegzunehmen.
Ich habe mich bereits entschieden: Ich werde die Partei wechseln und zu den Unabhängigen übertreten. Denn unser Zwei-Parteien-System ist komplett daneben. Ich habe noch keinen Amerikaner getroffen, der das abstreitet. Etwas dagegen unternehmen tut aber niemand. Vielleicht kommen aber noch einige Millionen andere auf diese Idee. Dann gibt es plötzlich Zug in den Kamin.
Der in Jonen aufgewachsene Joe Huber wohnt seit 1986 in den USA. Lange Zeit in New York, nun in Fort Myers, Florida. Regelmässig berichtet er von seinem Leben und hält seine Gedanken als Auslandschweizer fest.