Das Wunder von Muri

  08.06.2021 Kolumne

Susanne Schild, Redaktorin.

Heute ist mein Lieblingstag. Es ist ein Sonntag im Juni und ich werde einfach nichts tun. «Vielleicht gehe ich nirgendwohin und verbringe dort einen summsig fröhlichen Tag», sinnierte ich, während ich auf meiner Terrasse sass. Just in diesem Moment tauchte des Nachbars Katze in meinem Garten auf. Gemächlich steuerte sie auf meinen Weihnachtsbaum zu. Diesen hatte mein Sohn zusammen mit meinem Vater zwei Tage vor Weihnachten, also am am 22. Dezember gekauft. Nach Aussage meines Vaters befanden sich die Importbäume auf der linken Seite und die Schweizer Tannenbäume auf der rechten Seite. Die Importbäume seien um die Hälfte billiger gewesen und da hat er zugeschlagen. Ein «Weihnachtsschnäppchen» sozusagen. «Naja», dachte ich mir, er ist eben ein typisch Deutscher: egal was, woher oder wie, Hauptsache billig. Sie war gekauft und stand in unserem Wohnzimmer. Da stand sie dann bis Mitte Januar und hatte tatsächlich noch keine Nadel verloren. «Unglaublich», dachte ich mir. Ab Mitte Januar stand sie dann in meinem Garten. Bis Mitte April hatte sie immer noch keine Nadel verloren. Dann kamen die Stürme. Doch ihre Nadeln hielten. Wie in der «Drei Wetter Taft»-Haarspray-Werbung von 1994: «Die Frisur hält, egal bei welchem Wetter.»

Ab Mitte Mai fing die Importtanne an, sich zu verfärben. Sie wurde orange, verlor aber immer noch keine Nadel. Wohlgemerkt, ich hatte sie nicht eingepflanzt, sondern sie stand immer noch im Christbaumständer.

Ich sass wie gesagt auf meiner Terrasse, den Blick auf die orangefarbene Importtanne gerichtet und sah, wie Nachbars Katze diese ungeniert anpieselte. In diesem Moment dachte ich mir: «Katze müsste man sein.» Kein Respekt vor den Sachen anderer. Alles egal. Mittlerweile hatte ich mich an die Tanne gewöhnt. Ja, sie ist mir richtig ans Herz gewachsen. Und dann wird sie angepieselt und ich muss das mitansehen.

Ich habe beschlossen, die Tanne nun endgültig zu entsorgen. Mich nimmt es wunder, ob ihre Nadeln vielleicht in tausend Jahren bei archäologischen Grabungen gefunden werden. Das wäre dann das Weihnachtswunder von Muri oder einfach nur eine genmanipulierte Importtanne, die angepieselt wurde.


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