Die erste Weisse im Busch
13.11.2020 WaltenschwilBald erscheint ein Buch über das Leben von Schwester Gaudentia, aufgewachsen in Waltenschwil
Seit fast drei Jahren ist Hertenstein am Vierwaldstättersee Schwester Gaudentia Meiers Heimat. Vorher lebte und wirkte sie 49 Jahre in Papua-Neuguinea.
Annemarie Keusch
Wie ihr Alltag aussieht? «Ich helfe an der Pforte und im Konvent mit», sagt Schwester Gaudentia. Sie lacht und schaut Helene Arnet an. «Was mache ich noch?» «Tee», sagt Helene Arnet und schmunzelt. «Stimmt, ich bin viel im Garten, pflücke Minze oder andere Pflanzen, dörre sie und mache Tee daraus.» Schwester Gaudentia ist 82 Jahre alt. Dass ihr Tagesablauf nicht mehr streng durchgetaktet ist, ist normal. Ihr scheint es aber unangenehm zu sein. Denn im Vergleich zu ihrem Leben, das sie fast ein halbes Jahrhundert auf der fernen Insel Papua-Neuguinea führte, ist das heute die pure Langeweile. Knapp drei Jahre sind vergangen, seit sie gesundheitshalber zurück in die Schweiz kommen musste.
Noch nicht abgeschlossen
Schwester Gaudentia, die in Waltenschwil aufwuchs, steht immer noch im regen Kontakt mit vielen Leuten aus Papua-Neuguinea. «Nein, abgeschlossen ist das für mich nicht», sagt sie und schwelgt in Erinnerungen. Vor allem beim Betrachten der Fotobücher kommen ihr viele Geschichten in den Sinn. Sie war die erste Weisse, die die Einheimischen sahen. Ihre Geschichte hat Schwester Gaudentia der Journalistin Helene Arnet erzählt. Das daraus entstandene Buch erscheint in den nächsten Tagen.
Mit Gottvertrauen im Gepäck
Das Buch über Schwester Gaudentia Meier gibt Einblick in ihr eindrückliches Leben
1969 gingen sie – zu fünft. Dabei war auch die in Waltenschwil aufgewachsene Schwester Gaudentia. Die Baldegger Schwester blieb bis im Januar 2018 auf der Insel Papua-Neuguinea. Über ihr dortiges Wirken, aber auch über ihre Kindheit in Waltenschwil hat Helene Arnet ein Buch verfasst.
Annemarie Keusch
Schwester Gaudentia erinnert sich an die staunenden Blicke. Nicht nur die Kinder machten grosse Augen, als das Kleinflugzeug im südlichen Hochland von Papua-Neuguinea landete. Auch ihre Eltern sahen zum ersten Mal Weisse, fünf Frauen, fünf Nonnen, fünf Baldeggerschwestern. Lange riefen die Einheimischen die Schwestern nicht beim Namen, nannten sie einfach «Weisse Frauen». Schwester Gaudentia Meier lacht. Es ist eine von unzähligen Erinnerungen aus 49 Jahren auf Papua-Neuguinea. Jener Insel, von deren Existenz sie lange nichts wusste.
Dass es die Insel gibt, wusste Helene Arnet. Wo genau sie liegt aber nicht. Über Erzählungen kam die studierte Germanistin und Historikerin mit Schwester Gaudentia und Papua-Neuguinea in Kontakt. Es ist Arnets Schwägerin, die immer wieder erzählt. Denn diese Schwägerin ist gleichzeitig die Nichte von Schwester Gaudentia, also quasi die Verbindungsperson, welche die beiden Frauen zusammenbrachte. «Ich war schon alleine von den Erzählungen fasziniert», sagt Helene Arnet. Exotisch, mutig, abenteuerlustig – das Interesse der Journalistin war schnell geweckt, bevor sich die beiden Frauen je persönlich begegneten.
Vor sieben Jahren mit Buchprojekt gestartet
Heute sitzen sie am Tisch im Bildungshaus Stella Matutina in Hertenstein. Helene Arnet kam per Schiff durch den Nebel über dem Vierwaldstättersee. Bei jedem Besuch holt sie Schwester Gaudentia vom Anlegeplatz ab. Mittlerweile sind die beiden Vertraute. Helene Arnet kann für Schwester Gaudentia Sätze beenden, wenn ihr die Wörter fehlen. Und Helene Arnet kennt ihre Geschichten – nicht alle, aber ganz viele davon.
Sieben Jahre ist es her, dass sich die Frauen erstmals trafen. Es war bei einem von Schwester Gaudentias Heimatbesuchen. Anfangs alle fünf Jahre, später alle drei Jahre kam sie für drei Monate zurück in die Schweiz. 2013, bei Gaudentias Goldener Profess, sahen sie sich erstmals, weitere Treffen und Gespräche folgten, bis sie zurück nach Papua-Neuguinea reiste. «Zuerst versuchten wir via Mail weiter im Gespräch zu bleiben, aber das gestaltete sich schwierig», sagt Helene Arnet. Zu eingespannt war Schwester Gaudentia auf der Insel, zu wichtig war ihr alles, was sie dort aufbaute. Lange Mails zu schreiben, dafür fehlte schlichtweg die Zeit.
5000 Kinder zur Welt gebracht
Es war nichts, ausser «zäntome» Grün, als Schwester Gaudentia 1969 bei der Missionsstation Det ankam – auf der Karte ist dieser Ort bis heute nicht zu finden. Eine kurze Landepiste gabs, einen kleinen Trampelpfad, der davon wegführte. Keine Strassen, erst recht keine Gesundheitszentren oder Geburtshäuser. Immer noch besteht Det aus ein paar Häusern mitten im Dschungel. Später war sie in der Provinzhauptstadt Mendi tätig. Eine grössere Stadt, für die Verhältnisse in Papua-Neuguinea, aber doch kleiner als Wohlen. Schwester Gaudentia hat Gesundheitszentren und eine Pflegerinnenschule aufgebaut. Angenehm ist es ihr nicht, als Heldin dargestellt zu werden. «Es brauchte das ganze Team», sagt sie. Aber trotzdem nickt sie, als Helene Arnet betont, dass die Gesundheitsstationen, die AIDS-Hilfe und die Pflegerinnenschule die Verdienste von Schwester Gaudentia sind. Rund 5000 Kinder hat sie als gelernte Hebamme in Papua-Neuguinea zur Welt gebracht.
Die Herausforderungen, die Schwierigkeiten und die Projekte mit auch nur einem kleinsten Anspruch auf Vollständigkeit in einem Zeitungsartikel zu beschreiben, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Schwester Gaudentia erwähnt einige von ihnen. Sie spricht etwa das Drogenproblem an, das auf der Insel sehr gross ist. Das Klima sorgt dafür, dass alles sehr schnell wächst – auch Marihuana. «Männer von aussen brachten die Samen und zahlten die indigenen Völker dafür, dass sie sie ansäen», erzählt Schwester Gaudentia. Später folgte der Tauschhandel mit Waffen. «Die Verletzungen bei Kämpfen mit Pfeil und Bogen waren schwer, jetzt mit den automatischen Schusswaffen ist es aber viel schlimmer.»
Muttergottes-Statue vor Geburtshäusern
Die Entwicklung, die sich in Europa über Hunderte Jahre hinzog, müssen die Einheimischen im südlichen Hochland Papua-Neuguineas innerhalb weniger Jahre durchmachen. «Die erste Schreibmaschine war nur kurz im Einsatz, bis es keine Farbbänder mehr zu kaufen gab. Also musste ein Computer her», nennt Schwester Gaudentia ein Beispiel. Auch nur anhand von Bildern stellt Helene Arnet diese Entwicklung fest. «Auf Fotos der ersten Jahre trug niemand synthetische Kleidung, das meiste war aus Pflanzen gebastelt. Dann sind mehr und mehr T-Shirts mit Werbesprüchen zu sehen.»
Ein Kampf, den Schwester Gaudentia seit Jahrzehnten beschäftigt, ist jener gegen die Hexenverfolgung. Die Naturreligion der Einheimischen will es so, dass bei einem Todesfall immer jemand dafür die Schuld tragen muss. «Oft sind es Frauen», weiss Gaudentia. Sie werden misshandelt, vor den Augen ganzer Dorfgemeinschaften. In solchen Momenten ist es ihr Gottvertrauen, das ihr oft hilft, furchtlos einzuschreiten. Überhaupt, es ist der Glauben, der Gaudentia die vielen schwierigen Momente überstehen liess. «Vor jedem Geburtshaus steht eine Muttergottes-Statue», sagt sie und lächelt. Kraft habe sie immer im Gebet gefunden, aber auch in der Dankbarkeit der Bevölkerung.
Entwicklungshilfe auf Augenhöhe
Dass jetzt ein Buch über ihr Leben erscheint, mit dem Titel «Mit Gottvertrauen im Gepäck», ist Schwester Gaudentia fast ein wenig unangenehm. Dass Helene Arnet sie in ihrer Abwesenheit eine «echte Heldin» nennt und erzählt, dass sie manche zuweilen im gleichen Atemzug wie Mutter Teresa nennen, dürfte ihr erst recht unangenehm sein. Schwester Gaudentia hat bei Helene Arnet Eindruck hinterlassen. «Ich habe beim Schreiben dieses Buches so viel gelernt. Ich habe durch Schwester Gaudentias Lebensgeschichte gesehen, wie Entwicklungshilfe funktionieren kann – und das auf Augenhöhe.»
Seit fast drei Jahren ist Schwester Gaudentia zurück in der Schweiz. Papua-Neuguinea vermisst sie jeden Tag, auch wenn die Beziehung zur Familie in Waltenschwil und zum Kloster Baldegg immer noch eng ist. Der Kontakt zur Insel ist regelmässig. Und ein grosses Glück für Schwester Gaudentia: Mit ihr kehrte auch Schwester Lukas Süess in die Schweiz zurück. Beide leben sie in Hertenstein. Abgeschlossen ist das Kapitel Papua-Neuguinea noch nicht, auch wenn alle Gesundheitsstationen an Einheimische übergeben werden konnten.
Im Mai hätten sie für drei Wochen auf die Insel fliegen wollen, Corona kam dazwischen. «Es wäre schön, wenn es noch klappen würde», sagt die 82-Jährige.
Das Buch «Mit Gottvertrauen im Gepäck» erscheint im «Hier und Jetzt»-Verlag. Die Buchpräsentation in Waltenschwil musste wegen der Pandemie verschoben werden. Noch geplant sind zwei Anlässe in Dietikon (6. Dezember) und im Kloster Fahr (19. Dezember). Weitere Infos: www. helene-ar.net.