Die Ohnmacht der Walthers

  02.09.2022 Besenbüren

Eine Familie aus Besenbüren kämpft für ihre geistig beeinträchtigte jüngste Tochter

Savita Walther ist geistig beeinträchtigt. Aktuell besucht sie die zweite Klasse in Bünzen. Integrative Schule heisst das Modell. Doch aus dem einstigen Sonnenschein wurde in den letzten Jahren ein verschlossenes Mädchen. Auf einen Platz in einer HPS wartet die Familie wohl noch ein ganzes Jahr.

Annemarie Keusch

Angefangen habe es im Kindergarten. «Savita hat das Lachen verloren», sagt Mutter Nadine Walther. Der Sonnenschein hörte auf zu strahlen. Sie kam fast täglich schreiend nach Hause. Ihre Aggressionen nahmen zu. «Es war der Albtraum», sagt Nadine Walther. Im Kindergarten war es, als ihrer jüngsten Tochter erstmals vor Augen geführt wurde, dass sie anders ist, verdeutlicht wurde, dass sie weniger kann als die anderen Kinder. «Ich mache nichts mehr, ich bin sowieso blöd.» Es sind solche Sätze, die die kleine Savita nach einem Jahr Kindergarten sagt und die ihren Eltern das Herz brechen. Vom Wirbelwind ist nicht mehr viel übrig. Savita sitzt nur noch herum, Motivation hat sie für gar nichts mehr. Eine erhebliche kognitive Beeinträchtigung wurde bei ihr wenige Monate nach dem Eintritt in den Kindergarten diagnostiziert. Savita ist geistig beeinträchtigt.

Vor wenigen Wochen hat Savita Walther die zweite Klasse in Angriff genommen – wieder in Bünzen. Besenbüren, Bünzen, Boswil – in allen drei Dörfern ging die Neunjährige zur Schule. Glücklich wurde sie nirgends. «Ja, im Nachhinein wäre es besser gewesen, wir hätten sie von Anfang an in eine heilpädagogische Schule geschickt. Aber das konnten wir doch nicht wissen.» Es schwingt Ohnmacht in der Stimme von Nadine Walther mit, auch ein Stück Verzweiflung. Denn so einfach ist die Suche nach einem Platz in einer heilpädagogischen Schule nicht. Das weiss auch Marcelle Tschachtli, Leiterin der HPS Wohlen. «Aktuell sind neun Kinder auf der Warteliste», sagt sie. Eines davon ist Savita. Ihre Familie gibt den Kampf nicht auf. «Sie soll bekommen, was ihr zusteht», sagt ihre Mutter. Auch wenn der Kampf der Familie viel abverlangt.


Die Sonne soll wieder strahlen

Die Familie Walther aus Besenbüren kämpft für ihre jüngste Tochter Savita

Äusserlich sieht man ihr nichts an. Savita Walther ist ein aufgestelltes Mädchen. Und das trotz der Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hat. Das Mädchen leidet an einer erheblichen kognitiven Beeinträchtigung. «Integrative Schule funktioniert nicht», sagt ihre Mutter. Und hofft, dass für Savita bald ein Platz in einer heilpädagogischen Schule frei wird.

Annemarie Keusch

Es ist heiss an diesem Nachmittag. «Du musst weiter weg gehen», sagt Savita Walther. Im Badeanzug steht sie auf der Treppe, die in den Pool führt. «Das Wasser spritzt weit, wenn ich voll hineinspringe», kündigt sie lachend an. Mit ihren Schwestern Enya und Leonie springt sie immer wieder in den Pool. Sie werfen sich gegenseitig den Ball zu. Und wie in jeder anderen Familie herrscht die Harmonie nicht stundenlang. Savita Walther weint laut. Eine ihrer Schwestern habe extra den Ball auf die Strasse hinuntergeworfen. Gefährlich ist das nicht, die Strasse in Besenbüren ist eine Sackgasse, nur wenige Häuser sind damit erschlossen. «Irgendjemand muss den Ball holen, dann ist alles wieder gut», rät Mutter Nadine Walther.

Es könnte eine Szene im Sommeralltag jeder normalen Familie sein. Und eine normale Familie sind die Walthers auch. Vater Urs, Mutter Nadine, die drei Töchter Leonie, Enya und Savita. Sie helfen einander, sie streiten miteinander, die älteren beiden mixen der Mutter einen Drink – ohne Alkohol natürlich. Und doch ist vieles in der Familie Walther anders. Das sehen die beiden Töchter Enya und Leonie zwar nicht so. «Für uns ist alles ganz normal, auch dass Savita eben anders ist», sagen sie. Dass sie auf dem Pausenplatz ein Auge auf sie haben, ist für sie selbstverständlich. Nur, Savita ist die Einzige, die nach den Sommerferien noch in Bünzen zur Schule geht. Leonie wechselte in die Oberstufe nach Boswil, Enya in die Mittelstufe an den Schulstandort Besenbüren. Das bereitet den älteren beiden Schwestern Sorgen.

Weniger schnelle Entwicklung

Es sind gemischte Gefühle, die Nadine Walther überkommen, wenn sie an den kürzlich wieder angefangenen Schulalltag denkt. Erst wenige Wochen sind vergangen, seit ihre jüngste Tochter immer wieder weinend aus der Schule nach Hause kam. «Am Schluss wollte sie gar nicht mehr hin.» Nadine Walther sagt es relativ ruhig. Für sie sind solche Reaktionen normal geworden. Dabei war die Hoffnung gross, als sie Savita vor vier Jahren in den normalen Kindergarten anmeldeten. Gewusst, dass ihre Tochter geistig behindert ist, haben die Eltern damals noch nicht.

Sie sei schon immer anders gewesen, sagt Mutter Nadine Walther. Savita war bereits dreijährig, als sie zu sprechen anfing. «Uns störte das nicht. Wir akzeptieren jedes unserer Mädchen, wie es ist, und sie sind alle drei perfekt, wie sie sind.» Auch die routinemässigen Besuche beim Kinderarzt führten nie zu Besorgnis. «Der Knoten löst sich sicher noch», meinte die Ärztin. Druck kam nie, von keiner Seite. «Unsere Savita war eben weniger schnell in der Entwicklung als andere. Mehr nicht.» Ein fröhliches Mädchen sei sie schon immer gewesen. «Sie hat den ganzen Tag gelacht. Da war noch alles in bester Ordnung.»

Auf Problematik aufmerksam machen

Mittlerweile ist viel passiert. Und wenige Wochen ist es her, dass Urs und Nadine Walther den Entschluss fällten: «So geht es nicht mehr weiter.» Das Projekt der integrativen Schule funktioniert nicht, zumindest bei Savita nicht. Vier Jahre der Odyssee hat die Neunjährige hinter sich, drei Jahre in einer Regelklasse. Nun der Entscheid: Sie soll ihre weitere schulische Laufbahn in der Heilpädagogischen Schule in Wohlen absolvieren. «Wir haben uns das lange überlegt», betonte Nadine Walther. An der HPS soll man den Bedürfnissen ihrer Tochter «endlich gerecht» werden. Savita habe das Recht auf Bildung, auf ideale Förderung, wie es alle Kinder haben. «Und ich kämpfe als Mutter dafür, dass sie das bekommt, was ihr zusteht.» Solche oder ähnliche Sätze sagt Nadine Walther während des Gesprächs mehrmals.

Die Familie erzählt ihre Geschichte nicht öffentlich, um die Kreisschule Bünz schlecht dastehen zu lassen. «Wir machen niemandem einen Vorwurf. Es ist verständlich, dass die Lehrerinnen und Lehrer weder das Fachwissen noch die Zeit haben, sich ideal um Savita zu kümmern», sagt Nadine Walther. Und trotzdem: Sie wollen ihre Geschichte öffentlich erzählen, um zu sensibilisieren, um auf die Problematik von zu wenigen Plätzen an heilpädagogischen Schulen hinzuweisen, um Verständnis zu schaffen. Sie wollen damit auch an die Politik appellieren: «Integrative Schule funktioniert nicht immer, wie sich das diese Leute auf dem Papier vorstellen.»

Auch Kinderpsychologin riet zu integrativer Schule

Savita Walther ist geistig beeinträchtigt. Aber sie ist nicht dumm. «Sie merkt, dass sie anders ist als die anderen», sagt ihre Mutter. Sie merkt, dass sie im Mathematikunterricht vor einem Blatt mit Rechenaufgaben bis zur Zahl 10 sitzt, während andere schon doppelt so hoch rechnen. Sie merkt, dass alle anderen zu Geburtstagen eingeladen werden, nur sie nicht. Und Nadine Walther ist überzeugt, dass dies nicht besser wird: «Je anspruchsvoller der Schulstoff wird, umso weniger kann sie folgen. Eine Stunde Schule ist für ihr Hirn so anstrengend wie für andere drei Stunden. Um etwas zu begreifen, braucht sie mehrere Repetitionen. Dafür scheint es in unserem Schulsystem leider keinen Platz zu haben.»

Sie hätten gehofft, sagt Nadine Walther. Gehofft, dass die integrative Lösung die ist, die ihrer Tochter gerecht wird. «So viel Normalität wie möglich wollten wir ihr bieten», begründet sie. Vor allem auch vonseiten von Experten, etwa von einer Kinderpsychologin, wird zur integrativen Schule geraten. Heute ist das Fazit der Walthers deutlich: «Es geht nicht. Es geht schlicht nicht.» Und damit machen sie keiner Lehrperson Vorwürfe. Diese würden zwischen immer grösseren Ansprüchen von allen Seiten, Förderung der Individualität der «normalen» Kinder und, und, und nicht noch Kapazität haben, um sich um ein Mädchen mit speziellen Bedürfnissen zu kümmern. «Was auf dem Papier gut tönt, lässt sich in der Realität nicht umsetzen.» Und darunter leidet die Familie Walther, Savita im Speziellen. Nirgends gehört sie dazu. Inzwischen empfiehlt auch die Kinderpsychologin den sofortigen Wechsel von Savita Walther in eine heilpädagogische Schule, «um ihr psychisches Wohlergehen nicht zu gefährden».

Familie geht offen damit um

Nadine Walther würde sich mehr Verständnis wünschen. Savita sieht man nicht an, dass sie geistig beeinträchtigt ist. Dass sie x-mal dieselben Fragen stellt, nervt viele. Dass sie ihren Schulkameraden helfen will, die Jacke anzuziehen, um damit zu zeigen, dass sie dies kann, kommt nicht gut an. Umso wichtiger sei es, dass Savita in der Familie ganz viel Normalität erfahre. «Wir wissen, wie wir mit ihr umgehen müssen, damit es ihr gut geht.» Sie braucht Verständnis, wenn sie aggressiv nach Hause kommt, weil sie auf dem Schulweg gehänselt wurde. Natürlich sei die Beeinträchtigung von Savita Thema im familiären Alltag. «Wir sprechen ganz offen darüber», sagt Nadine Walther.

Offen kommunizieren sie auch Savita gegenüber. «Wir sagten ihr, dass sie bald an einem anderen Ort, einem für sie besseren Ort in die Schule gehen kann. Aber sie weiss, dass das nicht sofort geht», erzählt Nadine Walther. Im schlechtesten Fall bleibt Savita noch ein ganzes Schuljahr in der Regelklasse. «Es fehlt an allen Ecken und Enden an Sonderschulplätzen», sagt Nadine Walther. Savita steht auf der Warteliste der Heilpädagogischen Schule Wohlen. «Wir hoffen», sagt ihre Mutter. Der Name Nadine bedeute die Hoffnung. Und die Walthers kämpfen. Savita sei ein indischer Name und heisse Sonne. Diese soll zur alten Strahlkraft finden.

Hobby gefunden, das sie erfüllt

Klar, eine heilpädagogische Schule bedeutet für die Familie mehr Aufwand. «Das ist es uns mehr als wert, wenn unsere Tochter endlich die Bildung erhält, die ihr zusteht», sagt Nadine Walther. Dass Savita möglichst schnell eine heilpädagogische Klasse besuchen könne, sei zudem kein egoistischer Wunsch. «Unter der aktuellen Situation leiden alle. Savita, wir als Familie, die Lehrpersonen, die Mitschüler.» In erster Linie sei es für sie frustrierend, zuzusehen, wie ihre Tochter vom fröhlichen Mädchen zur verschlossenen Schülerin geworden ist. «Ich hoffe so sehr, dass sich das wieder ändert.» Dafür braucht Savita einen Ort, wo sie unbeschwert lernen kann, wie ihre beiden Schwestern es in der normalen Schule tun können.

Und sie braucht Akzeptanz, Verständnis. So, wie sie es beispielsweise bei den Sportschützen Wohlen findet, wo Savita und ihre Schwestern im Kleinkaliber-Schiessen ein Hobby gefunden haben. «Hier kann sie ohne Konkurrenzkampf ihrem Hobby nachgehen, sehen, wie sie besser wird. Das tut ihr so unglaublich gut, denn Savita ist fast nirgends besser als die anderen Kinder», sagt Nadine Walther.

Es sind jene Momente, in denen der Sonnenschein wieder strahlt. Und die Walthers hoffen, dass diese immer mehr werden. So, wie an diesem Nachmittag im Pool – zumindest nachdem eine der Schwestern den Ball wieder geholt hat.


Warteliste auch in Wohlen

Marcelle Tschachtli spricht über die Problematik

Dass heilpädagogische Schulen Wartelisten haben, ist die aktuelle Realität. Das bestätigt auch Marcelle Tschachtli, Leiterin der HPS Wohlen. «Wir haben 74 Schulplätze und alle sind besetzt, die Schule wurde ursprünglich für 60 Schülerinnen und Schüler gebaut. Auf der Warteliste sind zurzeit im ersten Zyklus, sprich Kindergarten und Unterstufe, fünf Kinder, eines davon ist Savita Walther. In der Mittelstufe sind zwei auf der Warteliste und auf der Oberstufe ebenfalls zwei.» Erst wenn ein Kind wegziehe oder in ein anderes Setting wechsle, können die Schule wieder ein anderes Kind aufnehmen. «Dabei priorisieren wir in Rücksprache mit dem schulpsychologischen Dienst nach Schweregrad der Behinderung und einem allfällig vorhandenen Leidensdruck und durch das kantonale Departement koordiniert.»

Zeit, Personal, Räumlichkeiten und Willen

Dass dies für die betroffenen Familien keine einfache Situation ist, kann Tschachtli sehr wohl nachvollziehen. Aber sie weiss, dass die Zahlen an heilpädagogischen Schulen nicht rückläufig seien, im Gegenteil. «Letztes Jahr wurden im Kanton Aargau zusätzliche Plätze geschaffen, auch an der HPS Wohlen.» Marcelle Tschachtli ist trotz Fällen wie jenem von Savita Walther überzeugt, dass integrative Schule funktionieren kann. «Bei guten Voraussetzungen kann es ein Mehrwert sein. Es braucht Ressourcen, sprich Zeit, ausgebildetes Fachpersonal, geeignete Räumlichkeiten und den Willen aller Beteiligten.» Doch es gebe auch Grenzen. «Im Mittelpunkt der Überlegung sollte das Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen stehen.» Genau dafür kämpfen die Walthers aus Besenbüren. Trotzdem, womöglich müssen sie bis Ende Schuljahr warten, bis ein Platz für Savita in Wohlen frei wird. Was rät Marcelle Tschachtli solchen Familien? «Mit der Schule und dem schulpsychologischen Dienst zusammenarbeiten und dann allenfalls beim Kanton, Abteilung Sonderschulung, Heimwerkstätten und Werkstätten vorsprechen. Zudem sollen sie die Regelschule auf das Angebot der Beratung der Regelschulen bei kognitiver Behinderung der HPS Bremgarten aufmerksam machen.»

Und Marcelle Tschachtli erwünscht sich auch Hilfe aus der Politik. «Genug Unterstützung der Regelschulen, damit Integration in vielen Fällen gelingen kann.» --ake


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