Durchblick

  07.10.2022 Meinungen

Man sieht sie kaum, sie stehen da, hindern uns nicht, aber sind uns trotzdem im Weg. Kennen Sie sie noch? Ich spreche von den transparenten Hindernissen, die uns die letzten zwei Jahre täglich begleitet haben. Trennscheiben.

Dieser Text ist keine Massnahmenpolitik. Es ist eine Lobrede, ein Plädoyer, eine Analyse des ärgsten Feindes der Backenküsser. Mit dem Ausbruch des Virus suchten wir alle Schutz auf verschiedene Art und Weise. Maske, Mindestabstände, Zertif ikat, Scheibe – so vielseitig wie ein grosses Buch präsentierte sich das Massnahmenarsenal.

In der Gastronomie mussten alle Beteiligten am selben Strang ziehen, um das Überleben der eigenen Unternehmung zu sichern. Manch ein politisches Dekret wurde dankbar umgesetzt, um ein Rahmenwerk präsent zu haben, an das sich alle (die meisten) halten konnten und ein überschaubares Mass an Sicherheit erlangten, ohne gross am Erlebnis Restaurantbesuch etwas zu ändern. Die Trennscheibe war eines dieser Mittel.

Stoisch lebte sie während dieser Zeit verklebt vor den Kassen der Post, der Lebensmittelverteiler, den Schaltern der Banken – und eben verteidigte sie hartnäckig ihr Dasein auf sämtlichen längeren Tischen der Beizen, die trotz Regelwerk Mehrfachbelegungen eines Tisches ermöglichen wollten, um den Umsatz um eine Besuchergruppe reicher zu machen.

Vielerorts sind mit dem Aufheben der Massnahmen diese Scheiben schneller verschwunden, als sie einst aufgetaucht waren. Lediglich bei vereinzelten Bankschaltern oder wenigen Ladenkassen findet man noch eine solche Scheibe – und wenn man eine antrifft, neigen die Dialog führenden Personen sich nur zu gerne auf die Seite, um an der Scheibe vorbeidiskutieren zu können (ich als Brillenträger, der tagtäglich eine Scheibe vor den Augen trägt, verstehe dies vollkommen).

Ob die Trennscheiben dereinst eine Rückkehr erfahren werden, wird sich zeigen. Vielleicht sind ihre Tage gezählt, vielleicht fangen sie jetzt erst richtig an. Die Natur und die Politik werden uns früher oder später diese Frage beantworten. Solange wir aber ohne Trennscheiben auskommen, geniesse ich den Durchblick mit meiner Brille, teeschlürfend in einem Café mit Ausblick auf eine bevölkerte Einkaufsstrasse – durch eine Fensterscheibe.


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