Ein Ass mit 80 Jahren

  25.03.2022 Tennis

Paul Döbeli vom Tennisclub Muri

Mit 80 Jahren wird Paul Döbeli Schweizer Meister bei den Senioren über 80 Jahren.

Jahrgang 1942 und ein Ass auf dem Tennisplatz. Diese Zeitung hat sich auf ein Tennis-Duell mit dem Dottiker Paul Döbeli eingelassen und hat dabei einen faszinierenden Menschen kennengelernt. Paul Döbeli spielt wegen den Kontakten seines Sohnes Mark (aus Boswil) seit Jahren beim Tennisclub in Muri. --spr


Der sportliche Wunder-Senior

Ein Tennis-Duell gegen Paul Döbeli, Schweizer Meister der über 80-Jährigen

Stefan Sprenger

Ein perfekter Stoppball. Vollsprint ans Netz. Im letzten Moment schaufle ich den Tennisball rüber. Sofort fliegt der Ball meterhoch über meinen Kopf. Ein meisterhafter Lob. Vollsprint zurück an die Grundlinie. Mit dem Rücken zum Gegner und mit ganz viel Verzweiflung schlage ich den Ball irgendwie zurück. Mein Gegner lauert bereits am Netz. Mit viel Gefühl streichelt er den Filzball unerreichbar ins Feld. Punkt für ihn.

Und ich habe mich noch nicht mal umgedreht. Meine Sportuhr zeigt einen Puls von 148. Mein Gegner ist fast ein halbes Jahrhundert älter als ich. Er lächelt zufrieden. Sein Name ist Paul Döbeli, Jahrgang 1942. Sein Gesichtsausdruck sagt: «Damit hättest du wohl nicht gerechnet, Bürschchen.»

Vor wenigen Tagen feiert der Dottiker Paul Döbeli einen glanzvollen Sieg. Der Mann vom Tennisclub Muri wird Schweizer Meister. Und das an der Senioren-Meisterschaft mit Rekordbeteiligung. 181 Teilnehmer sind dabei. Die Besten des Landes. Döbeli startet in einem Tableau mit 16 Spielern. Sieg am Donnerstag. Sieg am Freitag. Sieg am Samstag. Im Final am Sonntag erfüllt sich dann ein Traum. Der mehrfache Aargauer Meister war auch schon in einem Final der nationalen Meisterschaft, doch hat immer verloren. «Das het mi bisse», meint er. Doch jetzt hat es gereicht. Und wie. Finalgegner Ernst Lüthi ist als Nummer eins gesetzt an diesem Turnier. Doch Döbeli spielt so stark, dass es ihm schwindlig wird. «Ich bin Schweizer Meister bei den über 80-Jährigen. Dieser Titel bedeutet mir sehr viel», sagt er.

Überraschender Start

Und jetzt stehe ich – seit 2018 sporadischer Tennis-Anfänger – mit diesem sportlichen Wunder-Senior auf dem Tennis-Court in der Wase in Birrhard. Am selben Ort, wo er den Titel holte. Und erstaunlicherweise ist er es, der zu Beginn untendurch muss. Im ersten Game steht es 0:40 für mich. Noch keinen Punkt hat Paul Döbeli geschafft. Und das trotz Aufschlag. Dafür ist sein Shirt schon feucht vom Schweiss. «Das chunt de scho», sagt er routiniert. Wenig später steht es 40:40. Mit Linienglück und dem längeren Atem hole ich mir das erste Game doch noch. 0:1. Erstes Break im ersten Spiel. Im zweiten Game läuft es noch besser. Ich packe keine Zauberschläge aus, aber Döbeli macht viele unerzwungene Fehler. Game für mich.

«Ich weiss jetzt, wie ich gegen dich spiele»

Ich, 2 Meter gross, 37 Jahre alt, führe mit 2:0 gegen ihn, 1,74 gross, 80 Jahre jung. Siegessicher bin ich aber trotz Führung keineswegs. Auch weil Döbeli spitzbübisch über die Netzkante blickt und im Vorbeigehen sagt: «Ich weiss jetzt, wie ich gegen dich spiele.» Die Partie wird ab sofort eine andere sein.

Paul Döbeli ist eine Erscheinung. Ein Unikat. Als er mir bei der ersten Begegnung die Hand schüttelt, ist er mir sofort sympathisch. Seine Jugendlichkeit hat er nie verloren, zumindest innerlich. Er sprüht vor Lebensfreude. Und das macht mir riesigen Eindruck. Und auch äusserlich wirkt er höchstens wie ein gerade erst frisch Pensionierter. Ich habe noch nie einen so körperlich fitten 80-Jährigen gesehen. Was ist sein Geheimnis der ewigen Jugend? «Viel Bewegung und öpedie e Grappa», lautet seine Antwort. Wir müssen beide laut lachen.

Jetzt hat er wieder Aufschlag. 40:15. Eine schnelle Sache. Er verkürzt auf 1:2. Die Pausen beim Seitenwechsel dauern etwas länger. Paul Döbeli erzählt mir aus seinem Leben. Aufgewachsen in Baden, KV- und Buchhalter-Ausbildung in Zürich. In seinem Berufsleben war er in leitender Funktion in der Administration. Er half mit, die Pneuhaus-Kette der Adam Touring von zwei auf vierzig Filialen zu vergrössern. Vor der Pensionierung arbeitete er bei einer Auto-Garage in Wettingen. Sportlich war er schon immer. Leichtathletik. Boxen. Judo. Und dann blieb er hängen beim Tischtennis. In Wettingen wurde er das Oberhaupt des Vereins und wurde nach 10 Jahren zum Ehrenpräsidenten ernannt. Da war er noch keine 30 Jahre alt.

Er spielt fast nur auf die Rückhand

«Machen wir weiter?» Döbeli steht auf und joggt an die Grundlinie. Meine Aufschläge sind gut, seine Returns sind besser. 15:40. Döbeli gleicht zum 2:2 aus. Ab sofort spielt er praktisch jeden Ball auf die Rückhand. «Da bist du eher schwach», meint er. Dieses Game geht nicht mal eine Minute. Stoppball. Slice. Volley. Alles Winner. Mit einem kontrollierten Smash holt er sich die erstmalige Führung. 3:2. Der Senior ist in Fahrt und braust davon. Und ich rieche an seinem Auspuff.

Seitenwechsel. Wir setzen uns wieder auf das Bänkli. «Ich habe keine einzige Tennisstunde in meinem Leben genommen», sagt er und trinkt einen Schluck Wasser. 1975 war es, als er von seinem Arbeitgeber die Gelegenheit bekam, umsonst Tennis zu spielen. «Das war der Start für meinen neuen Sport. Und ich bin ihm bis heute treu geblieben.» Döbeli war 33 Jahre jung und hat sich das Tennisspielen selbst beigebracht. «Deshalb habe ich vermutlich einen etwas unorthodoxen Spiel-Stil.» Später wird er regionale Turniere gewinnen und Aargauer Outdoor-Meister werden – und er schafft Anfang März 2022 seinen ersten Schweizer-Meister-Titel. Mit 80 Jahren. Zu seinen Glanzzeiten war er ein R4-Spieler, heute ein R6. Und mich schätzt er als R7 ein (übrigens: R9 ist die schlechteste Klasse).

«Sorry, gäll»

Ein entscheidendes Game steht an. Gelingt mir der 3:3-Ausgleich oder zieht er auf 4:2 weg? Es ist eine enge Sache. 40:30 für mich. Spielball. Ein langer Ballwechsel. Eine perfekte Vorhand von mir. Und dann folgt das grosse Staunen. Döbeli erläuft sich diesen Ball und spediert ihn zurück. Netzroller auf meine Seite. «Sorry, gäll.» Mit etwas Glück und ganz viel Routine gewinnt er das Game. 4:2.

Seine Aufschläge kommen nun präzise und variantenreich. Letztes Jahr musste er sich die Schulter operieren lassen. Kaum auszudenken, wie er davor aufgeschlagen hat. Ich halte dagegen. Auch ich versuche nun seine grösste Schwäche auszunutzen: sein Alter. Bei langen Ballwechseln sollte ich doch den längeren Atem haben. Ich bin ja 42 Jahre jünger. Die Taktik: kontrolliert spielen ohne Risiko. Die Kugel einfach einmal mehr rüberbringen als er, irgendwann wird er schon müde. Es läuft gut. Ich kann mir total vier Breakbälle erspielen. Allesamt wischt er routiniert weg – und holt sich schliesslich auch dieses Game. 5:2 für Paul Döbeli.

Nur bei einem Thema wird er nachdenklich

Ein letztes Mal werden die Seiten gewechselt. Döbeli nimmt nochmals auf dem Bänkli Platz. Und es folgt der einzige Moment, wo er nicht vor Lebensfreude sprüht und nachdenklich wird. Er erzählt von seiner Frau Marianne. Vor vier Jahren ist sie gestorben. Wenige Wochen bevor sie ihre goldene Hochzeit gefeiert hätten. Nach einem gemeinsamen Leben, nach einem halben Jahrhundert, nachdem man zwei Kinder grossgezogen hat, da ist plötzlich der wichtigste Mensch fort. Für immer. Friedlich eingeschlafen im Altersheim in Hägglingen. Wie fühlt sich das an? «Für sie war es auch eine Erlösung, sie wollte nicht mehr.» Und für ihn? «Zu Beginn erdrückend. Dann schwierig, sehr schwierig.» Doch Döbeli blickt voraus, fokussiert sich auf die schönen Dinge. Jeden Tag. Seinen Alltag kann er alleine meistern. Und er weiss, dass dies als 80-Jähriger ein Privileg ist. Gemeinsam mit seiner Maine-Coon-Katze namens «Chicca» lebt er in einer Terrassenwohnung in Dottikon. Und er geniesst das Leben. «Mein Alltag ist meist gut ausgefüllt. Meist haben meine Aktivitäten mit Tennis zu tun.» Er geht joggen in den Vita-Parcours, spielt Tennis in Muri, Wohlen und Birr, schaut sich viel Tennis im TV an – und er geht spazieren. Oft und lange. Und dabei sitzt er auf ein Bänkli, denkt über Gott und Marianne nach. Über all die schönen Jahre seines Lebens mit ihr. Und über alles, was wichtig ist. «Ruhe. Bewegung. Leben», sagt Döbeli. «Familie, Freunde, Sport.»

Apropos Sport. «Jetzt aber wiiter», klingt es durch die Halle. Döbeli ist voller Erwartung meiner Aufschläge. 5:2. Er kann das Spiel jetzt nach Hause bringen. Es ist wieder eine knappe Kiste. 40:40. Meine Breakbälle wehrt er souverän ab. Und irgendwie habe ich das Gefühl, er spielt manchmal ein wenig mit mir. Er will noch nicht, dass es vorbei ist. Er will mich, den «junge Schnuufer» noch ein wenig umherhetzen. Es gelingt ihm. Er gewinnt 6:2. Eine ehrenvolle Niederlage. Shakehands am Netz. Wir vergleichen unsere Schweissabdrücke auf den T-Shirts. Sie sind ähnlich gross. «Diese Partie war etwa auf dem Niveau eines Finals bei den über 80-Jährigen», meint Döbeli. Und ich nehme das mal als Kompliment.

Die braunen Haare wehen im roten Cabriolet

Sein Sohn Mark Döbeli hat sich die Partie angeschaut. Er ist im Vorstand der Ringerstaffel Freiamt – und ebenfalls ein Tennisliebhaber. Seine Augen zeigen, dass er stolz auf seinen Vater ist. «Er macht sehr viel für seine Fitness. Er ist enorm diszipliniert», sagt sein Sohn. Gegen seine Schwiegertochter Jasmin Döbeli-Rey spielt er manchmal auch eine Partie Tennis. «Doch sie gewinnt selten ein Game», sagt Mark Döbeli. Auch das nehme ich mal als Kompliment.

Viel wichtiger als ein Sieg gegen den Schweizer Meister der über 80-Jährigen war die Begegnung mit diesem positiven Sportfanatiker Paul Döbeli. Unzählige Menschen streifen unser Leben, jeden Tag. Die meisten davon hinterlassen nicht grosse Spuren. Und dann gibt es die Paul Döbelis dieser Welt. Menschen, von denen man etwas mitnehmen und etwas lernen kann. Er ist ein Vorbild für viele. Ein lebender Beweis für pure Lebensfreude. Ein Wunder-Senior. «Die Tenniswelt steht mir offen», meint er lachend. Jetzt, wo er als junger Hüpfer gilt in der Kategorie Ü80. Sein Ziel: «Turniere spielen. Gewinnen. Spass haben. Mit Muri erfolgreich an den Interclub-Meisterschaften spielen. Und den Schweizer-Meister-Titel verteidigen.»

Er ist ein Sonnenfan, kocht gerne nach Rezept, liebt die Natur, liebt die Tiere, verbringt gerne Zeit mit seinen Kindern und deren Anhang, er hasst jegliche Art der Diskriminierung – und fährt gerne bei schönem Wetter mit seinem roten Cabriolet. So auch an diesem Tag. Nach der Verabschiedung steigt er in sein Cabrio – und ich sehe seine braunen Haare im Wind flattern. Mir wird klar: Ich möchte mit 80 Jahren auch so sein wie Paul Döbeli. Ich beginne sofort mit dem Training und verinnerliche sein Geheimrezept: «Viel Bewegung und öpedie e Grappa.» Für mich ist klar: Dieser Mann hat den Grand Slam des Lebens gewonnen.


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