Erinnerungen werden wach
11.11.2025 Jugend, Sins, Literatur, Region OberfreiamtWie es damals war
Sinserin schrieb Autobiografie über ihre Jugend
Den Duft des Schlafzimmers ihrer Grossmutter hat sie noch immer in der Nase. «Nachdem unser Grossvater starb, musste immer eines von uns Kindern neben ihr schlafen.» Es ist ...
Wie es damals war
Sinserin schrieb Autobiografie über ihre Jugend
Den Duft des Schlafzimmers ihrer Grossmutter hat sie noch immer in der Nase. «Nachdem unser Grossvater starb, musste immer eines von uns Kindern neben ihr schlafen.» Es ist eine von ganz vielen Geschichten, die Rita Mühlebach in «Das goldene Album» aufgeschrieben hat. «Für meine Töchter, die so ganz anders aufgewachsen sind als ich damals.» Mühlebach ist die jüngste von zehn Geschwistern. Der Vater hat eine Schreinerei. Sins ist noch ein 2000-Seelen-Dorf. Und jeden Tag bekreuzigt die Mutter die Kinder mit Weihwasser, bevor sie das Haus verlassen. --ake
Rita Mühlebach las in ihrer Heimatgemeinde Sins aus ihrer Autobiografie «Das goldene Album»
Sie wuchs in einer Grossfamilie in Sins auf. Nun hat Rita Mühlebach über ihr Leben ein Buch geschrieben und damit gar einen Autobiografie-Award gewonnen. An der Lesung im Kulturhaus traf die mittlerweile in Nidau wohnende Autorin auf viele bekannte Gesichter, die ganz viele ihrer Geschichten teilen.
Annemarie Keusch
Vielleicht weiss sie den Namen nicht mehr. Aber die Gesichter sind noch bekannt. Natürlich jener Frau, die bereits zu Schulzeiten ihre engste Freundin war. Oder jener Leute, die als Kinder und Jugendliche bei den Mühlebachs ein- und ausgingen. «Wir waren immer viele Leute am Tisch und im Haus», sagt Rita Mühlebach. Zehn eigene Kinder, Haushalthilfen, die Grossmutter, Schreinerlehrlinge. Dazu Besuch. «Viel Besuch.» Da merkte der Vater auch nicht jedes Mal, ob ein eigenes oder ein fremdes Kind am Tisch sitzt. Es sind solche und ähnliche Erinnerungen, die die gebürtige Sinserin Rita Mühlebach in «Das goldene Album» festhält. Erinnerungen an die Kindheit, das Aufwachsen in Sins. «Ich wollte das für meine Töchter festhalten», sagt sie. Weil diese ihre Grosseltern mütterlicherseits nie kannten, weil auch das Haus, in dem sie aufwuchs, mittlerweile nicht mehr steht. «Und weil das Aufwachsen heute so ganz anders ist, als es damals war.»
Der Plan stand schon lange. Aber es brauchte das Schicksal, um ihn Realität werden zu lassen. Rita Mühlebach erkrankte an Brustkrebs. Die verordnete Ruhe nach der Chemotherapie nutzte sie, um in ihre eigene Geschichte einzutauchen. Mit Aufsätzen ihrer Mutter, die sie in Bananenschachteln lagerte. Und mit dem goldenen Buch. «Ein berührendes Zeitdokument.» Darin enthalten ist die Geschichte ihrer Eltern. Die Briefe, die ihr Vater an ihre Mutter schrieb. Anfänglich mit der Anrede «Wertes Fräulein Bucher». Später wurde er mutiger, schrieb «Allerliebste Marie». In Gedichtform ist der aktuelle Stand der Beziehung aufgeschrieben. 40 Jahre schlummerte das Album vor sich hin, bis es nach dem Tod ihrer Mutter in deren Kleiderschrank entdeckt wurde.
Mit zweitem Vornamen gekennzeichnet
Die anfänglich aufgestellten Stühle im Kulturhaus Küngsmatt reichen nicht. Es sind viele Leute, die an der Lesung von Rita Mühlebach dabei sein wollen. Leute, die ein Teil des Weges gemeinsam mit der Autorin gingen. Leute, die sich für ihr Buch, ihre Geschichte interessieren. Kommt hinzu, dass «Das goldene Album» mit dem «meet-mylife»-Autobiografie-Award ausgezeichnet wurde. «Eine erfreuliche Überraschung.»
Mühlebach las kurze Passagen querbeet aus ihrem Buch. Und sie verriet, weshalb dieses nicht mit ihrem Namen, sondern mit «Emma» als Autorin gekennzeichnet ist. «Eine Spielerei. Früher schämte ich mich für meinen zweiten Vornamen, weil er so schrecklich altmodisch war. Heute bin ich stolz darauf.» Die Chance nutzen und diesem zweiten Vornamen einen Ehrenplatz einräumen – das wollte sie tun.
Tausende Male «Gegrüsst seist du, Maria»
Rita Mühlebach ist die Jüngste von zehn Geschwistern. «Eigentlich wären es elf, aber eine Schwester starb knapp zweijährig an einer Lungenentzündung. Antibiotika wurden erst kurz vorher erfunden und meine Eltern hatten keinen Zugang dazu.» Stattdessen setzten sie auf andere Tricks, damit alle gesund blieben. «Ein Löffel Biomalt täglich. Im Gegensatz zum Lebertran schmeckte dieser zumindest gut.» Das Lachen im Publikum zeigt, dass viele Mühlebachs Erinnerungen teilen. Solche Situationen gibt es an diesem Abend mehrfach. Etwa, wenn die Autorin erzählt, dass sie Tausende Male das «Gegrüsst seist du, Maria» gebetet habe. «Ich muss gestehen, ich kann es bis heute nicht auswendig und stolpere immer über das Wort ‹gebenedeit›. Warum es nicht einfach gesegnet heisst? Ich weiss es nicht.»
Das Aufwachsen in der Grossfamilie. Es bot Vor- und Nachteile. «Ich beneidete die «neuen Familien» in den Einfamilienhäusern», gesteht Rita Mühlebach. Im Sommer Rimini, im Winter Skiferien. Elastische und nicht wie sie gestrickte Strumpfhosen. Dem gegenüber stehen die grossen Freiheiten. «Unser Haus bot viele Ecken, Nischen und Verstecke, alle zu überwachen, das ging schlicht nicht.» Dass sie mit einem ihrer älteren Brüder auf das zwölf Meter hohe Dach kletterte, nahm dann aber ein böses Ende. «Aber erst auf dem sicheren Estrichboden. Es blieb die einzige Ohrfeige.»
Geschwister um Erlaubnis gefragt
Es ist viel Privates, Intimes, Persönliches, das in «Das goldene Album» an die Öffentlichkeit gerät. «Als ich den Preis gewann und das Buch so richtig öffentlich wurde, musste ich meine Geschwister um Erlaubnis fragen.» Alle neun leben noch, erfreuen sich guter Gesundheit – mehrere sind an diesem Abend in Sins auch da. Bruder Hans sagt: «Natürlich waren wir einverstanden. Es steht ja nichts Böses darin.» Wobei es ihm ob der grossen Anzahl an Leuten an der Lesung nun doch etwas «gschmuuch» werde. Das Lächeln spricht Bände, auch im Gesicht der Autorin. Natürlich hält sie die grosse Besucherzahl auf Fotos fest. Natürlich erzählt sie gerne die eine oder andere Anekdote, verkauft und signiert Bücher und schwelgt mit alten Bekannten in vielen Erinnerungen.


