Geschichte zum Anfassen
18.03.2025 Boswil, Region OberfreiamtZurück ins neunte Jahrhundert
Archäologische Funde zwischen Kirchweg und Bachstrasse in Boswil
Es sind Scherben von Keramiktöpfen. Knochen von Ziegen und Kühen. Und es sind Grubenhäuser. Die Kantonsarchäologie ist in ...
Zurück ins neunte Jahrhundert
Archäologische Funde zwischen Kirchweg und Bachstrasse in Boswil
Es sind Scherben von Keramiktöpfen. Knochen von Ziegen und Kühen. Und es sind Grubenhäuser. Die Kantonsarchäologie ist in Boswil am Werk.
Annemarie Keusch
Ein grosser Bagger zieht fein säuberlich dünne Schichten des Erdreiches ab. Nur ganz wenige Zentimeter auf einmal. Damit die drei Mitarbeiter der Kantonsarchäologie allfällige Scherben entdecken würden. Mit kleinen Kellen suchen sie nach ebensolchen Fundstücken. Und gefunden haben sie in den letzten Wochen in Boswil so einiges. Zwischen Kirchweg und Bachstrasse, dort, wo bestehende Gebäude abgerissen wurden und eine neue Überbauung entsteht, lebten schon im 9. Jahrhundert Menschen. Ihre Grubenhäuser, Knochen ihrer Tiere, Scherben ihrer Töpfe kamen zum Vorschein. «Eigentlich kein seltener Fund», sagt David Wälchli, der vor Ort leitende Grabungstechniker. Am Jurasüdfuss kämen oft solche Funde zum Vorschein. Im oberen Freiamt aber selten.
Seit Anfang März ist die Kantonsarchäologie in Boswil am Werk. «Hier ist ein idealer Ort für mögliche Funde», sagt Wälchli. Weil das Gebiet im Schwemmfächer des Weissenbachs liegt. «Dadurch, dass Geschwemme das Gebiet in der Vergangenheit immer wieder überdeckte, sind frühere Epochen besser erhalten», erklärt er. Der Anfangsverdacht hat sich erhärtet, Funde aus der Zeit, als Boswil ein Königsgut war und dem Fraumünsterstift in Zürich angehörte, belegen die lange Geschichte des Dorfes. Und die Mitarbeiter der Kantonsarchäologie suchen weiter.
Die Kantonsarchäologie hat in Boswil Fundstücke aus dem 9. Jahrhundert entdeckt
Tierknochen, Scherben, Grubenhäuser. Seit gut zwei Wochen ist die Kantonsarchäologie in Boswil am Werk. Wo die Überbauung «Wohnen am Wissenbach» geplant ist, wird nach weiteren Fundstücken gesucht.
Annemarie Keusch
Eines vorneweg. Wer die Ausgrabungen der Kantonsarchäologie in Boswil beobachtet, der räumt schnell mit Klischees auf. Ein grosser Bagger ist am Werk. Die Grabungstechniker arbeiten mit Kellen, Schaufeln und Langstielkratzern. «Die Pinsel sind nur ein Klischee», sagt Daniel Huber. Er ist einer von drei Mitarbeitern, die gestern Morgen in Boswil tätig waren. Geleitet werden die Arbeiten vor Ort von David Wälchli. Und dieser räumt gleich mit einem zweiten Klischee auf. «Unser Job ist körperlich anstrengend. Wir schaufeln grosse Mengen an Erde.» Nur für die oberen Schichten kommt der Bagger zum Zug. «Nachher geht es an die Handarbeit.» Solche haben die Leute von der Kantonsarchäologie schon einige geleistet. Ein Grubenhaus und eine Feuerstelle sind freigelegt – beide aus dem neunten Jahrhundert. Ebenfalls Kellergebäude, «traditionelle Freiämter Spycher», sagt David Wälchli. Diese stammen aber aus der Neuzeit. Und doch, dass gewisse Resultate deutlich zu sehen sind, lässt Passanten stillstehen.
Dass die Kantonsarchäologie beim Aushub für die Überbauung «Wohnen am Wissenbach» zwischen Kirchweg und Bachstrasse dabei ist, ist kein Zufall. David Wälchli nennt den Begriff Verdachtfläche und erläutert: «Der Weissenbach hat hier über die Jahrhunderte immer wieder Geschwemme mitgeführt.» Schwemmfläche nennen die Grabungstechniker die Gebiete entlang der Bäche. Sie wurden immer wieder überdeckt, die Chancen, dass Gegenstände oder Bauten aus früheren Epochen erhalten bleiben, sind entsprechend höher. Und die Verantwortlichen sollten sich nicht täuschen. In einer Kiste lagern sie die Gegenstände, die bisher gefunden wurden. Daniel Huber nimmt einige heraus. «Ein Horn einer Ziege, beidseitig abgesägt.» Aus den Enden hätten die Menschen wohl Werkzeuge gemacht. Ein Hüftgelenk einer Kuh, eine Keramikscherbe, anhand deren Ränder und Form sich das Alter der Fundgegenstände eruieren lässt. Ein Stück Schmied-Schlacke, ein nur stirnseitig schwarzer Stein, der darauf schliessen lässt, dass die Menschen damals schon in geschlossenen Öfen kochten. Lavez, Speckstein aus dem Kanton Graubünden, aus dem Töpfe gedrechselt wurden wie aus Holz.
Boswiler pilgerten nach Zürich
Entdeckt haben die Mitarbeitenden der Kantonsarchäologie aber nicht nur Kleingegenstände, sondern auch Grubenhäuser. Mehrere Meter unter dem jetzigen Erdniveau kamen sie zum Vorschein. Klein seien sie gewesen, sagt Daniel Huber. Ein kleiner Keller mit stehendem Webstuhl. «Weil sich Leinen bei hoher Luftfeuchtigkeit besser verarbeiten lässt, wurden diese Räume als Keller gebaut», weiss er. Gewichte von ebensolchen Webstühlen wurden ebenfalls gefunden. Drei Grubenhäuser sind es bisher, weitere werden vermutet. Sie sind ein Beweis dafür, dass Boswil wohl ursprünglich rund um die alte Kirche entstanden ist. Damals, im Jahr 853, als Königsgut des Fraumünster-Stifts in Zürich. «Bis zur Reformation pilgerten die Leute von hier darum nach Zürich», weiss David Wälchli.
Fundstellen wie jene in Boswil machen die Geschichte fassbar. Und sie lassen die Vergangenheit von Dörfern lebendig werden. Wälchli spricht von einem grossen Mosaik, das sich mit jedem Fund mehr vervollständige. Forschungsgrundlagen gibt es in diesem Teil des Kantons Aargau wenig. «Darum geht es vor allem auch darum, alle Funde zu dokumentieren und in Kataster einzutragen», sagt David Wälchli. Abgeschlossen ist dieses Projekt in Boswil noch nicht. Er schätzt, dass er und seine Mitarbeitenden weitere vier Wochen vor Ort sein werden. «Vielleicht finden wir noch Dinge aus dem Frühmittelalter oder das Herrschaftshaus, das zum einstigen Königsgut gehörte.» Prognosen wagt er keine. «Das tun wir nie. Auch hier hätten wir nicht damit gerechnet, Grubenhäuser zu finden.»
Verzögern Bauprojekt nicht
Dass Funde aus der Bronzezeit gemacht werden, das habe man geahnt. «Weil bei vergangenen Ausgrabungen in Boswil zwei Gruben aus dieser Zeit vor 3000 Jahren gefunden wurden, gefüllt mit Scherben, allenfalls ein Relikt einer rituellen Beerdigung», erzählt Daniel Huber. Stattdessen stiessen sie auf jüngere Grubenhäuser. «Die bisher südlichsten, die wir im Aargau gefunden haben.» Dass man so weit bachaufwärts weitere Grubenhäuser fand, war eher unerwartet und spreche für eine recht ausgedehnte Siedlung des frühen Mittelalters.
Schicht für Schicht wird auch in den nächsten Tagen abgezogen. Dabei arbeitet die Kantonsarchäologie Hand in Hand mit der Bauunternehmung und auch der Bauherrschaft. Und David Wälchli räumt mit einem dritten Klischee auf: «Wir verzögern das Bauprojekt mit unserer Arbeit nicht.»