Hemmschwellen abbauen

  16.04.2021 Wohlen

Morgen startet im Chappelehof die Wanderausstellung «Leben, was geht!»

Die eigentliche Vernissage fand bereits am 14. März des vergangenen Jahres statt. Drei Tage später musste die Ausstellung geschlossen werden. Jetzt wagt Martin Steiner einen neuen Anfang. Er wünscht sich, dass das Thema Suizid kein Tabu mehr ist in der heutigen Gesellschaft.

Chregi Hansen

«Ich bin froh, dass wir überhaupt öffnen konnten», sagt Martin Steiner, angesprochen auf das abrupte Ende vor einem Jahr. Genau am Tag vor der Vernissage hatte der Bundesrat verschärfte Massnahmen im Kampf gegen Corona verordnet, drei Tage später dann die «ausserordentliche Lage» ausgerufen und das öffentliche Leben mehr oder weniger zum Stillstand gebracht.

Immerhin: Rund 200 Besucher konnten Steiner und seine Helfer in diesen drei Tagen in der Kanti Wohlen empfangen. «Das war wichtig, hatte ich doch enorm viel Energie und Zeit in das Projekt investiert. Ein Lockdown noch vor der Vernissage, das wäre ein harter Schlag für mich gewesen», erklärt der Kunstschaffende und Kantilehrer weiter. So blieben einige gute Gespräche und ein mehrheitlich positives Feedback in Erinnerung. Und dennoch: «Corona hat das Thema natürlich damals überlagert. Vielen war es unwohl, nur wenige liessen sich auf ein persönliches Gespräch ein», so Steiner.

Besser so als gar nicht

Nun wagt er einen neuen Anlauf. Obwohl die Pandemie immer noch nicht ausgestanden ist. «Leben, was geht!» wird ab morgen Samstag zwei Wochen lang in Wohlen zu sehen sein, danach zügelt die Ausstellung nach Bremgarten und noch später nach Zug, weitere Standorte sind im Gespräch. «Es war von Anfang an unser Ziel, dass wir das Ganze auch an anderen Orten zeigen», erklärt der Ausstellungsmacher. Dass ihn das Thema Corona auch beim Neustart noch immer beschäftigt und er sogar ein Sicherheitskonzept erarbeiten musste, das hätte er sich kaum je vorstellen können. «Ja, wir müssen auch jetzt mit gewissen Einschränkungen klarkommen. Aber immer noch besser, als gar nichts zu machen. Dafür ist das Thema zu wichtig», sagt der Freiämter.

Denn Suizid ist, obwohl in der Schweiz täglich zwei bis drei Personen so aus dem Leben scheiden, weiterhin ein Tabuthema. Darüber hinaus werden tagtäglich bis zu dreissig Personen nach einem misslungenen Suizidversuch medizinisch betreut, nicht zuletzt auch Jugendliche. Im Zentrum der Ausstellung stehen denn auch die persönlichen Berichte von Betroffenen. Sie laden die Besuchenden dazu ein, Suizid, Suizidalität und ernsthafte Krisen aus verschiedensten Perspektiven zu erfahren und kennenzulernen, und schärfen den Blick für Hinterbliebene und deren Leben danach. Ihre Berichte sind alle als Podcasts nachhörbar, teilweise stellen sich diese Personen an den beiden Sonntagen auch als «living book» für persönliche Gespräche zur Verfügung.

Ins Gespräch kommen

Martin Steiner hofft, dass diesmal mehr Menschen diese Chance nutzen als beim ersten Mal. Damals waren die Direktbetroffenen als Gesprächspartner weniger gefragt, sondern eher die Helfer: Seelsorger, Psychiater, Therapeuten. «Offenbar besteht eine Hemmschwelle, direkt mit Leuten zu reden, die einen Angehörigen durch Suizid verloren haben», vermutet Steiner. Dabei möchten die Menschen, die sich zur Verfügung stellen, reden, sie scheuen das Gespräch nicht, haben etwas zu sagen. Letztlich aber lässt es das Konzept jedem Besucher frei, wie tief er eintauchen will in das Thema. Will er selber aktiv werden? Oder nur konsumieren? «Das Thema ist belastend und macht traurig. Trotzdem sollte man darüber reden», findet Steiner. Er weiss, wovon er spricht. Hat im Freundeskreis selber erlebt, wie es ist, wenn jemand Suizid begeht. «Meistens ist man in diesem Moment schockiert und fast immer sprachlos», erklärt der Ausstellungsmacher seine Motivation.

Am Konzept ändert sich bei der Neuauflage nichts. Die Besuchenden bewegen sich durch einen mehrteiligen Parcours, der sich mit ganz verschiedenen Facetten des Themas beschäftigt. Viele Informationen, viele Zahlen, aber beispielsweise auch Aussagen der verschiedenen Religionen zum Selbstmord. All das und vieles mehr lässt sich auf dem Rundgang entdecken.

Gerade jetzt höchst aktuell

Das Ganze ist feinfühlig arrangiert mit der Möglichkeit, sich zurückzuziehen, sich mit einem Aspekt zu beschäftigen. Das Projekt lädt zudem zu einer informativen Reise via Panels und interaktive Module ein. «Es brauchte natürlich gewisse Anpassungen an den Raum. Gerade auch in Bremgarten steht weniger Platz zur Verfügung», so der Macher der Ausstellung. Letztlich aber ist er froh, dass er sie nochmals zeigen darf.

Und: Das Thema sei aktueller denn je. «In diesen Zeiten nehmen die psychischen Probleme zu. Wird Suizid für einzelne Leute zu einem letzten Ausweg», weiss Steiner. Er würde sich darum freuen, wenn gerade auch Schulen den Weg in die Ausstellung finden, entsprechendes Arbeitsmaterial steht zur Verfügung. Vor einem Jahr gab es einige Anmeldungen. Jetzt ist die Zeit dafür schwieriger. «Wir haben verzichtet, alle Schulen anzuschreiben. Denn wir wussten sehr lange nicht, ob wir überhaupt öffnen können», so Steiner. Diese dauernde Ungewissheit, sie sei für alle Kulturschaffenden belastend. «Wir alle möchten doch ein Feedback auf unser Schaffen», meint er.

Besondere Kooperation

Die Ausstellung «Leben, was geht!» wird von ihm in Zusammenarbeit mit dem Kanton Aargau und dem Suizid-Netz Aargau organisiert und macht vom Samstag, 17. April, bis Sonntag, 2. Mai, im Chappelehof halt. Geöffnet ist sie jeweils von 14 bis 18 Uhr (am Eröffnungstag erst ab 15 Uhr). Auf eine Vernissage wird diesmal verzichtet. «Wir dürfen maximal 25 Personen gleichzeitig einlassen, da ergibt eine offizielle Eröffnung wenig Sinn», erklärt der Macher. Einzelne Mitwirkende der Living Books sind am 18. und 25. April anwesend. Alle Beiträge sind online abrufbar.

Zu einer besonderen Kooperation kommt es am Samstag, 24. April. Dann lädt der Verein Nichten & Neffen zu einem Themenabend mit dem Titel «Sich den Tod geben». Nach einem halbstündigen Vortrag des Philosophen und Theologen Jean-Pierre Wils, Professor an der Radboud-Universität Nijmegen in den Niederlanden, folgt ein fünfzehnminütiges Gespräch des Autors mit Peter Michalik von der Fachstelle Bildung und Propstei. Die Reaktionen darauf nimmt dann das Freiämter Playback-Theater «gehdicht.ch» entgegen und spielt sie ad hoc zurück.

«Dass dieser Anlass auch hier stattfindet, ist im Prinzip Zufall. Aber die beiden Sachen passen bestens und wir können voneinander profitieren», findet Martin Steiner. Der nun einfach hofft, dass er die Türen nicht wieder vorzeitig schliessen muss. Vorerst sieht es gut aus für die kommenden Wochen.

Besuchende der Ausstellung sollten nach Möglichkeit ihr Handy und Kopfhörer mitbringen. Infos: leben-was-geht.ch.


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