Hoffen auf wenig Ferien
20.06.2025 Fussball, SportUnauffällig im Rampenlicht
Frauenfussball: Die Murianerin Julia Stierli kurz vor der Europameisterschaft im eigenen Land
In zwei Wochen startet die Frauenfussball-EM in der Schweiz. «Ein absolutes Highlight», sagt Julia Stierli. Die ...
Unauffällig im Rampenlicht
Frauenfussball: Die Murianerin Julia Stierli kurz vor der Europameisterschaft im eigenen Land
In zwei Wochen startet die Frauenfussball-EM in der Schweiz. «Ein absolutes Highlight», sagt Julia Stierli. Die 28-Jährige ist eine zuverlässige und unauffällige Abwehrspielerin. Doch nun steht sie auf der grössten Bühne des Frauenfussballs.
Stefan Sprenger
«Hier. Zu Hause. Eine Europameisterschaft. Das ist einfach genial», sagt Julia Stierli. Über 550 000 Tickets wurden bereits verkauft. Eine halbe Milliarde Menschen in 190 Ländern werden zwischen dem 2. und 27. Juli die 31 EM-Spiele im TV mitverfolgen. Diese Europameisterschaft in der Schweiz ist der grösste frauensportspezifische Event in Europa. «Ich freue mich als Fussballerin und auch als Fan dieses Sports», sagt die Murianerin.
«Trainerin entscheidet»
Beim Treffen im Stadion Brühl in Muri (Ende Mai) ist schnell ersichtlich, wie verwurzelt die Profifussballerin des SC Freiburg nach wie vor in ihrer Heimat ist. Sie wird herzlich begrüsst, umarmt und gefragt, ob sie bereit für die EM ist. «Natürlich», sagt sie jeweils lächelnd.
Ob die Abwehrspielerin aber überhaupt im Aufgebot steht, weiss man noch nicht. Stierli selbst antwortet: «Die Trainerin entscheidet.» Die Zeichen deuten aber darauf hin, dass die erfahrene Innenverteidigerin mit dabei sein wird. Einerseits, weil sie in Freiburg eine starke Saison zeigte und ihren Job wie immer zuverlässig, unauffällig und rigoros meisterte. Andererseits, weil sie zu den erfahrensten Spielerinnen des Teams gehört. An der EM 2022 kommt Stierli zu einem Teileinsatz, an der WM 2023 in Australien und Neuseeland spielt sie in allen vier Matches über die volle Distanz.
Am Mittwoch, 2. Juli, geht die Heim-EM für die Schweiz los. Gegner ist Norwegen. «Sie sind Favorit. Wenn wir unsere beste Leistung abrufen, ist aber einiges möglich», so Stierli. Im Gespräch erzählt sie von ihrem ersten Jahr im Ausland beim SC Freiburg, von der Familie, der Heimat – und warum sie entgegen dem allgemeinen Trend keinerlei Social-Media-Kanäle nutzt.
Und sie trifft auch auf einen früheren Förderer beim FC Muri. Ein Trainer, der dafür sorgte, dass Muri zu einem Nest von guten Frauenfussballerinnen wurde.
Frauenfussball: Die Freiämterin Julia Stierli möchte an der Heim-EM (2. bis 27. Juli) möglichst weit kommen
Sie ist ruhig, erfahren und in der Abwehr ein sicherer Wert. Julia Stierli bereitet sich mit dem Nationalteam auf das grösste Highlight ihrer Karriere vor: Die EM im eigenen Land, die in zwei Wochen losgeht. Vorher schaute sie noch in Muri vorbei und erzählte, was sie sich vom Heimturnier erhofft.
Stefan Sprenger
Beinahe hätte er die Nationalspielerin nicht gesehen. «Hoi Shorty», ruft Julia Stierli hinterher. Wilfried Heller – von allen «Shorty» genannt – ist beim FC Muri eine Legende, die jeder kennt. «Er hat schon damals, als ich im Kinderfussball spielte, für Recht und Ordnung hier auf der Brühl gesorgt», sagt Stierli. Die Begegnung ist dann herzlich. Und «Shorty» ist sichtlich stolz, dass er die Nationalspielerin traf. «Sie ist eine von uns, aus Muri, bodenständig und toll», wie er meint.
Fokus ist im Hier und Jetzt
Bodenständig, bescheiden, demütig. Es sind Eigenschaften, die auf Julia Stierli zutreffen. Sie spielt unauffällig, aber zuverlässig. Sie läuft immer unter dem Radar, wohl auch, weil sie das Rampenlicht nicht sucht. Auf Social Media verzichtet sie bewusst – als einzige Spielerin im Nationalteam. «Ein Zeitfresser», seien Instagram, TikTok und Co.
Die Physiotherapeutin, die nach vielen Jahren beim FC Zürich vor einem Jahr zum SC Freiburg in die Bundesliga wechselte, liest lieber ein gutes Buch oder verbringt Zeit mit ihren Freunden und der Familie.
Aktuell ist das alles passé. Stierli weilt im EM-Vorbereitungscamp mit dem Schweizer Frauen-Nationalteam.
Die Kaderbekanntgabe ist am 23. Juni. Dann entscheidet sich, wer definitiv an der EM dabei ist und wer nicht. Ihre Chancen stehen gut. 2022 (EM) und 2023 (WM) war die 28-Jährige bereits dabei, an der WM war sie in jedem Spiel über 90 Minuten auf dem Feld.
Wie schätzt sie ihre Chancen ein? «Ich versuche jeden Tag, jedes Training und jedes Spiel meine beste Leistung zu zeigen. Der Fokus ist im Hier und Jetzt. Natürlich wäre es ein Traum für mich, wenn ich dabei sein darf. Als Sportlerin einen solchen Grossanlass im eigenen Land zu erleben, ist einmalig. Am Ende entscheidet aber die Trainerin.» Egal, ob sie es ins EM-Kader schaffen wird oder nicht: «Ob als Aktivfussballerin oder als Fan des Sports, ich freue mich auf diese EM.»
Skepsis vor Heim-EM
Das Treffen mit Stierli findet im Brühl in Muri statt. Auf dem Hauptplatz spielen an diesem Sonntagmorgen Ende Mai die C-Junioren. Immer wieder wenn es Strafraumszenen gibt, schaut Stierli rüber und fiebert mit dem Murianer Nachwuchs mit. «Dieser Ort ist speziell für mich, hier hat alles angefangen», erklärt sie und verweist auf ihre Anfangszeit beim FC Muri (siehe Bericht unten). Damals war Stierli die Vorreiterin von gleich mehreren Spielerinnen, die es weit bringen würden. Ihre Cousine Michelle Stierli und Donika Deda (beide FC Aarau, NLA) und natürlich Alayah Pilgrim (AS Rom, ebenfalls Nationalspielerin).
Und wie gerufen kommt die nächste Legende des FC Muri vorbei. Hans Hübscher, Koryphäe des Vereins, fragt kurz nach, wie sich Julia Stierli fühlt. Natürlich ist das Gespräch auch hier schnell bei der Heim-EM. «Toi. Toi. Toi.
Ich werde jede Minute der Nati schauen und mitfiebern. Wir sind stolz auf dich, Julia», sagt Hans Hübscher.
Das EM-Fieber sei «immer mehr zu spüren», wie sie sagt. Stierli sagt, dass sie der Schweiz als Austragungsort dieser EM zuerst skeptisch gegenüberstand. Auch weil die letzte EM 2022 in England neue Massstäbe setzte und Zuschauerrekorde knackte. Mittlerweile ist Stierli sicher: «Ich sehe und spüre, dass die Schweiz ein hervorragender Gastgeber dieser EM sein wird. Es geht was. Auf vielen Ebenen.»
«Es liegt einiges drin»
Ob Euphorie im Land entsteht, hängt natürlich sehr stark vom Abschneiden der Nati ab. Die Leistungen zuletzt waren durchzogen. In der Vorrunde geht es gegen Topfavorit Norwegen und die ebenfalls starken skandinavischen Teams aus Finnland und Island. «Zuletzt hatten wir Hochs und Tiefs in unseren Spielen. Wenn wir es an der EM hinkriegen, möglichst konstant auf hohem Niveau zu spielen, dann liegt einiges drin.»
Sie selbst befindet sich in starker Verfassung. Mit dem SC Freiburg beendete sie die Bundesliga-Saison auf dem 5. Rang. Saisonziel erreicht. «Ich konnte mich fussballerisch und menschlich in diesem Jahr weiterentwickeln. Ich fühle mich sehr wohl, habe Spass an dem, was ich tue», sagt Stierli, die auch kommende Saison beim SC Freiburg spielen wird. Verletzt war sie – ausser ein paar Wehwehchen – nie. «Ich bin nicht mehr die Jüngste», sagt Stierli. Als Physiotherapeutin hat sie aber das Wissen, wie sie dem entgegenwirken kann. «Genug schlafen. Gut ernähren. Zusatzübungen machen. So geht es sehr gut», meint sie.
Zwei Wochen vor dem EM-Start sei sie «langsam etwas kribbelig», wie sie sagt. Von ihrer Familie und Freunden erntet sie den nötigen Rückhalt. Denn die Zeit vor und während des EM-Turniers ist intensiv. Nicht nur körperlich, sondern auch mental.
Aber Julia Stierli hat genügend Erfahrung, um damit umzugehen. Die 1,82 Meter grosse Frau sagt mit ihrem gewohnt sympathischen Lächeln: «Ich hoffe, dass ich in diesem Sommer möglichst wenig Ferien habe.» Das würde nämlich bedeutet, dass die Schweizer Nati beim Heimturnier weit kommt. Vielleicht sogar in den Final am 27. Juli in Basel? Stierli meint: «Alles ist möglich.»
Sie freut sich, ihren Lieblingssport auf solch einer grossen Bühne in der Heimat zu vertreten. «Daran werde ich noch lange zurückdenken, da bin ich mir sicher.» Aber eben, die bodenständige und demütige Julia Stierli muss danach den Satz anfügen: «Sofern ich dabei bin, die Trainerin entscheidet.»
Die EM in der Schweiz
Ab dem 2. Juli kämpfen Europas Profikickerinnen in der Frauenfussball-Europameisterschaft in der Schweiz um den Titel. Die Schweiz bestreitet ihre Vorrundenspiele am 2. Juli gegen Norwegen (in Basel), am 6. Juli gegen Island (in Bern) und am 10. Juli gegen Finnland (in Genf). Der Final findet am 27. Juli in Basel statt.
Vier aus dem Freiamt dabei
Mehr als 550 000 Tickets wurden im Vorfeld des EM-Turniers verkauft. Eine halbe Milliarde Menschen in 190 Ländern werden die 31 Spiele im TV mitverfolgen. Die EM ist der grösste frauensportspezifische Event in Europa.
Die definitive Kaderbekanntgabe der Schweiz ist spätestens am 23. Juni.
Nebst Julia Stierli hat auch Stürmerin Alayah Pilgrim (aus Muri) gute Chancen, an der EM dabei zu sein. Mit Susanne Küng (Merenschwand/Wohlen) als Schiedsrichter-Assistentin und Fedayi San als Videoassistent sind zwei weitere Freiämter beim Grossanlass mit dabei. --red
Erst belächelt, dann gefürchtet
Überraschungstreffen von Julia Stierli mit ihrem einstigen Förderer Sepp Bütler vom FC Muri
«Sie war so gut wie die Jungs in ihrem Alter», sagt Sepp Bütler. Deshalb bringt er Julia Stierli zu den Buben. Ein Entscheid, der für sie nur positiv war – aber damals Diskussionen auslöste.
Scheu blickt er rüber. Sepp Bütler, Nachwuchstrainer beim FC Muri und Lehrer an der Bezirksschule in Muri, achtet auf ein Zeichen und begrüsst Julia Stierli. Es ist ein Überraschungstreffen, eingefädelt von dieser Zeitung. Beide freuen sich, einander zu sehen. Sepp Bütler war es, der Stierli im Alter von neun Jahren bei den Jungs mitspielen liess. «Ein Weg, der gefordert und gefördert hat», sagt Stierli.
Bütlers Traumquote
Es ist ein Entscheid, der am Ursprung liegt ihrer starken Karriere, in der sie mehrfach den Meistertitel und Cupsieg mit den Frauen des FC Zürich holt, in der Champions League spielt und mit der Nati an grossen Turnieren dabei ist. Und eine Karriere, die mit der Heim-EM in wenigen Wochen einen weiteren Höhepunkt erlebt.
Stierli war als junges Mädchen nicht die Einzige, die bei den Jungs mitspielen durfte. Ihre Cousine Michelle Stierli, Donika Deda, Laura Schneider und Alayah Pilgrim gingen danach denselben Weg. Auffällig und bemerkenswert stark: Alle schafften den Weg in die höchste Liga des Landes. «Ich habe 500 Jungs trainiert, keiner schaffte es in die höchste Liga. Ich habe fünf Mädchen trainiert, und alle schafften es in die NLA», erklärt Bütler lachend.
«Alle hatten entspannte Eltern»
Die Breite hat der FC Muri im Frauenfussball nicht – dafür die Spitze. Gibt es dafür eine Erklärung? Bütler meint: «Die Eltern von all diesen Spielerinnen waren sehr entspannt und haben sich nicht eingemischt und reingeschrien.»
Julia Stierlis Vater Markus und Onkel Toni waren einst prägende Figuren beim FC Muri. Mit acht Jahren beginnt sie ebenfalls mit Fussball. Als sie dann wegen Bütler bei den Jungs mitmachen durfte, gab es auch Kritik. Bütler: «Daran hatten im Verein nicht alle Freude, es gab Diskussionen.» Doch er beharrte darauf. Stierli meint heute: «Ich schätze es enorm und ich erachte es nicht als Selbstverständlichkeit, wie stark uns Sepp gefördert hat.» Dass sie damals bei den Jungs mitspielte, war ihr egal. «Ich wollte einfach Fussball spielen.»
«Wenn er das nicht getan hätte ...»
Bütler erinnert sich: «Die Jungs haben sie zu Beginn etwas belächelt. Nach dem ersten Training war das aber vorbei, Julia luchste den Jungs gleich reihenweise in der Verteidigung den Ball ab. Sie wurde schnell akzeptiert – und als Gegenspielerin gefürchtet.»
Als Jugendliche schafft sie die Aufnahme ins Ausbildungszentrum Huttwil, wo die besten Fussballerinnen des Landes trainieren. Sie absolviert das Sportgymnasium in Aarau – und schafft 2014 den Sprung zu den FC-Zürich-Frauen in die höchste Liga. Der Rest ist Geschichte.
Seit über 10 Jahren spielt Stierli auf höchstem Niveau Fussball. Doch auch heute noch denkt sie an damals zurück. An die Zeit – es war wohl 2005 oder 2006 – als Sepp Bütler sie zu den Jungs holte und ihre steile Karriere lancierte. Stierli sagt heute: «Wenn er das nicht getan hätte, wäre mein Weg wohl anders verlaufen.» --spr