Im Darkroom

  11.10.2022 Meinungen

Es gibt Erfahrungen im Leben, die man einfach gemacht haben muss. Ich wollte einmal den Genuss in seiner intensivsten Form erleben. Tasten, spüren, fühlen, riechen und schmecken, ohne zu sehen. Mich einmal nicht beobachtet fühlen. Einmal nicht das Gefühl haben, dass mich jemand anschaut, auch wenn mich niemand anschaut. Einfach ganz entspannt sein und nicht nach meinem Aussehen beurteilt werden. Das hat mich gereizt. Deshalb entschloss ich mich, zusammen mit einer Freundin ein Abendessen in der «blindenkuh» in Zürich zu geniessen.

Wir wurden an einen Tisch geführt, an welchem bereits Gäste sassen, die wir nicht kannten. Wir zwei «Hobbyblinde» kamen mit den zwei anderen nach kurzer Zeit ins Gespräch. Schon bald stellte sich heraus, dass unsere Tischgenossen zwei «Profiblinde» waren. Komisch war für mich, dass ich mir kein Bild von den Menschen machen konnte, die mit mir gemeinsam an einem Tisch sassen und den Abend mit mir verbrachten. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie sie aussahen. Ich hörte nur ihre Stimmen. Ob sie mir sympathisch waren oder nicht, hing nicht von ihrem Aussehen ab, sondern von ihrer Stimme und ihren Aussagen. Den Blick vom Äusseren weg nur auf das Innere richten war wirklich Neuland für mich.

Vieles war an diesem Abend anders. Normalerweise gehe ich allein auf die Toilette. In der «blindenkuh» musste ich zum Ausgang begleitet werden. Ich war auf Hilfe angewiesen.

Dann kam das Essen. Das Tatar zur Vorspeise ist zunächst nur schlabberig, der Umgang mit dem Besteck ist eine Herausforderung. Beim Fisch zur Hauptspeise ist der Duft dominant. Ich glaube, ich habe noch nie so einen intensiven Fischgeschmack gerochen. Tja und dann der Wein. Nach gut einer Stunde in der Finsternis klappte es langsam, ohne etwas zu verschütten.

An diesem Abend ass das Auge bei mir zum ersten Mal nicht mit. Dieses kulinarische Erlebnis machte mich hellhörig, feinfühlig und schärfte vor allem meinen Geruchs- und Geschmackssinn. Ein Fest für Nase und Zunge. Ohne sehen zu können, erhielt ich einen Einblick in eine fremde Welt. Und noch einen Vorteil hatte die Dunkelheit: Ich bin froh, dass ich nicht sehen musste, was für eine Sauerei ich auf dem Tisch und Boden hinterlassen habe.


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