Im Dauerstress
15.03.2022 Meisterschwanden400 Anrufe pro Tag, 2000 in der Woche. Auf der Homepage der «Alleviamed» in Meisterschwanden wird bereits auf der Startseite darauf hingewiesen, dass man nur schwer erreichbar ist. «Die Politik reagiert seit Jahren nicht auf den Fachärztemangel. Man erwirkt sogar noch neue Einschränkungen. Das nervt mich», sagt Dr. Marcus Roos. Die Zustände sind schwierig – seit Jahren. Diese kriegen alle Kinderarztpraxen der Region zu spüren. --spr
«Freiamt ist massiv unterversorgt»
Kinderarztmangel: Die Alleviamed in Meisterschwanden platzt aus allen Nähten – Dr. Marcus Roos erzählt
Es ist eine der wenigen Kinderarztpraxen der Region – und sie durchlebt gerade enorm belastende Zeiten. Bis zu 2000 Anrufe pro Woche erreichen die Alleviamed in Meisterschwanden. Der Wohler Kinderarzt Dr. Marcus Roos spricht über Anfeindungen der Patienten und was schief läuft in der Politik.
Stefan Sprenger
«Es ist uns bewusst, dass wir schwierig zu erreichen sind. Wir müssen aktuell im Durchschnitt rund 400 Telefonate pro Tag bewältigen, was im Grunde gar nicht möglich ist.» Diese Meldung erscheint als Erstes auf der Homepage der Alleviamed in Meisterschwanden. Die Praxis, die im Mai 2020 ihren Standort in Wohlen geschlossen hat aufgrund von Platzund Ärztemangel, platzt seit Monaten aus allen Nähten. Drei Ärzte und sechs medizinische Praxisassistentinnen versuchen jeden Tag die Patienten bestmöglich zu versorgen. Das Problem: Die Alleviamed hat 15 000 Patienten aus der ganzen Region – und zusätzliche Ärzte zu finden, ist nur sehr schwierig.
Kinderarzt Dr. Marcus Roos, der aus Zürich stammt und heute in Wohlen lebt, erzählt von den Problemen, die seine Praxis in Meisterschwanden seit rund zwei Jahren an den Anschlag bringen. Der 54-Jährige ist ein «Landarzt» aus Leidenschaft – obwohl es in der Stadt einiges einfacher wäre.
Ihre Praxis erhält 400 Anrufe pro Tag. Ist das wirklich so?
Marcus Roos: Ja. Ich habe sogar bei unserem Telefonprovider nachgefragt, weil wir viele Reklamationen erhalten haben, dass wir nicht erreichbar sind. Und da kam heraus, wir kriegen 400 Anrufe pro Tag, das sind über 2000 Anrufe pro Woche.
Wieso ist das so?
Das hatte sicherlich auch mit Corona zu tun. Doch auch sonst haben wir sehr viel zu tun. Und es gibt zu wenig Kinderärzte. Wir haben einen riesigen Patientenstamm von 15 000 Kindern – und wir nehmen weitere Kinder aus der Region auf, damit sie sich nicht alleingelassen fühlen. Dazu haben uns zwei Kinderärzte verlassen, was die Situation zusätzlich zugespitzt hat. Der Fachkräftemangel war übrigens auch der Grund, wieso wir im Mai 2020 den Standort Wohlen aufgeben mussten.
Wohlen ist die viertgrösste Gemeinde im Kanton und hat keinen einzigen Kinderarzt – und das bei rund 2500 Kindern im Alter von 0 bis 14 Jahren. Die nächsten Praxen liegen in Muri, Berikon, Lenzburg oder bei Ihnen in Meisterschwanden. Und die nächsten Spitäler in Baden und Aarau. Ein Zustand, der so eigentlich nicht geht, oder?
Ich bin ganz Ihrer Meinung. Dass Wohlen keinen Kinderarzt hat, ist tragisch. Wir kriegen diese Problematik enorm zu spüren.
Sie versuchen seit Monaten neue Kinderärzte für Ihre Praxis zu gewinnen. Wieso klappt das nicht?
Einerseits werden zu wenig Pädiater (Fachbegriff für Kinderarzt, Anm. der Red.) ausgebildet. Und viele Ärzte wollen in die Stadt und in grosse Praxen, weil dort die Situation entspannter ist und man einen geregelteren Arbeitsalltag hat. Ein selbstständiger Arzt in einer ländlichen Gegend zu sein, ist nicht mehr attraktiv. Es ist enorm schwierig.
Wieso tun Sie es dann?
Ich habe damit vor zwanzig Jahren angefangen. Für mich ist es eine Herausforderung. Mir macht neben der Tätigkeit in der Praxis auch der unternehmerische Aspekt Freude. Aber aktuell ist der Spass an einem kleinen Ort.
Man kann also sagen, Sie sind ein Landarzt aus Leidenschaft?
(Lacht) Ja, das kann man so sagen. Ich mache meinen Beruf sehr gerne. Den direkten Kontakt mit den Kindern schätze ich sehr. Sie sind ehrlich, spontan und unvoreingenommen. Es ist immer eine Herausforderung, ihr Vertrauen zu gewinnen. Das macht meine Tätigkeit so interessant.
Und doch sprechen Sie aktuell von enorm schwierigen Zeiten.
Ja. Wir erhalten wie gesagt 2000 Anrufe pro Woche. Das ist kaum zu bewältigen. Und da gibt es auch Anfeindungen der Patienten, weil sie unzufrieden sind.
Anfeindungen in welcher Form?
Mit negativen Google-Bewertungen und Gehässigkeiten am Telefon, die unsere medizinischen Praxisassistentinnen dann schlucken müssen. Was der Patient aber nicht sieht: Wir krampfen hier, arbeiten teilweise 12 Stunden pro Tag, manchmal bis 20 Uhr abends. Wir versuchen die Anrufe zu kanalisieren und aufs E-Mail zu verweisen. Manchmal sind bis zu vier Mitarbeiterinnen nur mit der Telefon- und E-Mail-Beantwortung beschäftigt. Wir versuchen unser Bestes. Aber es gibt eben längere Wartezeiten. Und wir triagieren auch. Heisst: Schwere Fälle kommen sofort dran, Bagatellen müssen warten. Trotzdem gibt es Unmut. Damit müssen wir leben.
Wie geht es Ihnen und Ihren Mitarbeitern dabei?
Es ist oft sehr frustrierend, aber sie stärken sich an den positiven, dankbaren Patienten, von denen es ja auch sehr viele gibt.
Wie viele Mitarbeiter hat die Alleviamed in Meisterschwanden?
Rund 600 Stellenprozent medizinische Praxisassistentinnen und 250 Stellenprozent Kinderärzte. Hinzu kommt, dass wir die neonatologische Versorgung und den Neugeborenen-Untersuch des Spitals Muri übernehmen. Da sind wir auch vor Ort, wenn es uns braucht.
Und wie viele Patienten?
Rund 15 000 Kinder, alle aus dem Freiamt und der näheren Umgebung. Wir haben Patienten, die sogar aus Baden oder Luzern anreisen. Wir nehmen nach wie vor neue Kinder auf, allerdings nur aus der näheren Umgebung.
Zu wenig Ärzte, zu viele Patienten. Was können Sie gegen dieses Problem tun?
Na ja, es wäre eigentlich einfach, wenn wir weniger Patienten hätten. Aber wir wollen ja unseren Patienten gerecht werden und auch die Eltern und ihre Neugeborenen aus der Region nicht im Stich lassen. Also versuchen wir neue Ärzte für unsere Praxis zu gewinnen. Ich schalte seit zwei Jahren regelmässig Stelleninserate, bin auch bei der Assistenzärzte-Ausbildung aktiv und versuche die Studenten so zu erreichen. Ich versuche so die Ärzte an der Wurzel abzuholen. Aber es ist und bleibt schwierig. Auch wegen der politischen Entscheide.
Erzählen Sie.
Per 1. Januar 2022 hat der Bund über eine neue Zulassungsverfügung beschlossen. Nun darf kein ausländischer Arzt angestellt werden in einer Praxis, wenn er nicht drei Jahre in einem Schweizer Spital angestellt gewesen ist. Ich habe das bereits gespürt.
Wie?
Eine junge Ärztin aus dem Libanon, die in den USA das Staatsexamen gemacht hat, machte bei uns ein Praktikum. Sie war fantastisch und ich hätte sie gerne eingestellt. Aber ich habe keine Bewilligung erhalten. Das ist nur ein Beispiel. Auch ein erfahrener Arzt, beispielsweise ein Deutscher, der zwanzig Jahre im Heimatland praktiziert hat, darf bei mir nicht arbeiten, wenn er zuvor nicht drei Jahre in einem Schweizer Spital gearbeitet hat. Das ist aus meiner Sicht nicht sinnvoll und erschwert die Suche noch mehr. Die Politik reagiert seit Jahren nicht auf den Fachärztemangel. Man erwirkt sogar noch neue Einschränkungen. Das nervt mich. Ich weiss nicht, wo sich der Bund beraten lässt, aber wenn man doch überall Unterkapazitäten hat, dann sollte man die Praxisbewilligungen doch erleichtern, statt sie zu verschärfen. Auch bei den Ausbildungsplätzen ist nicht viel passiert.
Was könnte die Politik tun?
Das Praktizieren auf dem Land für einen Arzt attraktiver machen. Beispielsweise mit einem anderen Tarifpunkt je nach Versorgungsdichte. Zusätzlich unbedingt mehr in die Ausbildung junger Ärzte investieren.
Die Situation scheint sich aber in naher Zukunft nicht zu ändern. Wohin wird das führen?
Es wird eine stärkere Verlagerung auf Spitäler geben. Denn es gibt immer mehr Ärzte, besonders auf dem Land, die so nicht weiterarbeiten wollen. Der Druck wird ihnen zu gross. Ich kenne keinen Arzt, der in einer ländlichen Gegend arbeitet und nicht total am Anschlag ist. Viele davon arbeiten weiter – auch nach der Pensionierung – und das aus reinem Goodwill. Das ist alarmierend und wird kaum wahrgenommen. Wie erwähnt wird nun einfach auf die Spitalmedizin ausgewichen, doch diese ist einiges teurer. Und dort kennt man auch den Patienten nicht, wie es der Hausarzt beispielsweise tut – und dann gibt es bei der ersten Konsultation oftmals Abklärungen, die gar nicht nötig wären.
Wie schätzen Sie allgemein die Situation der Kinderärzte im Freiamt ein?
Das Freiamt ist massiv unterversorgt. Viele Praxen haben einen Patientenstopp.
Was raten Sie frischgebackenen Eltern, wo sie mit ihrem Baby hinsollen für eine Routine-Untersuchung?
Wir verweisen auf die Hausärzte, wenn das Kind gesund ist. Aber auch dort ist die Belastung riesig. Einen guten Rat habe ich nicht, man muss eben weiter reisen für eine Untersuchung.
Könnten die Gemeinden etwas tun?
Ja, das wäre auch möglich. Beispielsweise, indem eine Gemeinde die Räumlichkeiten attraktiv macht und zur Verfügung stellt. So wie es Meisterschwanden mit uns getan hat. In Wohlen habe ich das vermisst. Aber eben: Wenn keine Ärzte da sind, ist es egal, wo die Praxis ist, man ist im Dauerstress.
Nochmals zu den rund 2000 Anrufen pro Woche. Wie viele davon wären vermeidbar, was denken Sie?
Vermutlich wäre ein Viertel der Anrufe vermeidbar. Viele Eltern gehen ins Internet und geben ein: «Kind, Kopfweh» und Dr. Google diagnostiziert dann eine Hirnhautentzündung. Aber ich kann die Verunsicherung der Menschen verstehen, besonders der Eltern. Und besonders in Zeiten von Corona ist diese Verunsicherung noch grösser.
Wie haben Sie die Coronapandemie in Ihrer Kinderarztpraxis erlebt?
In den allermeisten Fällen ist Corona für Kinder harmlos. Es gab viele Fälle, wo die Kinder Fieber hatten, wie bei einer Grippe. Ich weiss von keinem unserer Patienten, der auf einer Intensivstation war. Es gab nur ganz wenige Hospitalisationen, etwa auf Niveau von vor der Pandemie während der Grippewelle. Die Zahl eindeutiger Long-Covid-Fälle kann ich auch an einer Hand abzählen, aber vielleicht ist die Dunkelziffer ja doch höher. Hingegen waren viele Kinder psychisch angeschlagen in Folge des Lockdowns und der Massnahmen wie zum Beispiel der Schulschliessungen.
Die Psychiater sind ebenfalls ausgelastet.
Ja. Auch die sind extrem unter Druck. Die psychiatrischen Kliniken sind am Überlaufen. Es gab in der Coronazeit auch sehr viele familiäre Spannungen, bis hin zu Gewalt. Und die Kinder mussten wohl am meisten darunter leiden. Ich arbeite jetzt seit zwanzig Jahren in diesem Job. Und noch nie musste ich so viele psychiatrische Zuweisungen machen wie in den vergangenen zwei Jahren. Es sind jede Woche mehrere Zuweisungen. Das gibt einem schon zu denken.
Waren also die Coronamassnahmen für die Kinder belastender als das Virus selbst?
Ja. Das ist mein Eindruck als Kinderarzt.
Wie stehen Sie zur Corona-Impfung für Kinder?
Für Kinder unter elf Jahren sehe ich keine Notwendigkeit einer Impfung. Ausser es gibt Vorerkrankungen. Für Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren kann man es diskutieren. Im letzten Jahr wurde vom Bund und den Medien enorm Druck gemacht, möglichst alle Kinder zu impfen. Hier fehlte mir eindeutig eine objektive Nutzen-Risiko-Analyse. Das ist schade.
Wie ist die Situation um Corona aktuell?
Wir haben wieder hektischen Normalbetrieb. Die Menschen beginnen gerade, mit dem Virus zu leben. Das ist mein Eindruck. Wir hoffen alle, dass wieder Normalität einkehrt.
Und wie geht es mit der angespannten Situation in Ihrer Praxis in Meisterschwanden weiter?
Wir sind drei Ärzte und suchen noch mehr. Ich hoffe, dass wir bald jemanden finden. Räumliche Kapazitäten haben wir genug, wir müssen einfach einen Arzt finden, der zu uns kommt. Und dann können wir wieder mehr Patienten aufnehmen. Und irgendwann haben wir hoffentlich auch nicht mehr 2000 Anrufe pro Woche (lacht).