Max Frisch und der Fussball

  21.08.2020 Kolumne

Kolumne von Sergio Colacino, Ex-Profi, Trainer und Regionalfussballkenner

Wer oder was unsere Identität bestimmt, ist etwas, womit sich Schriftsteller Max Frisch sein Leben lang beschäftigt hat. Es ist auch eines der zentralen Themen in seinem Roman «Homo Faber». Ein Werk, in welchem die Hauptfigur ihr Dasein und ihr Handeln reflektiert und dadurch immer mehr von ihrer rationalen Haltung wegkommt. Gerade am Anfang des Romans wird das «Übliche» durch das «Plötzliche» ersetzt. Ein Gegensatz, der sich auch bei mir bis heute als ständiger Begleiter entpuppt hat. Dass ich an dieser Stelle dieses literarische Werk erwähne, mag vielleicht den Eindruck erwecken, dass ich als Lehrer sehr belesen bin und somit dem typischen Bild des intellektuellen Pädagogen entspreche. Das ist aber Quatsch. Ich muss betonen, dass der Roman, etwas übertrieben gesagt, das einzige Buch ist, das ich vollständig gelesen habe. Nicht freiwillig. Es gehörte damals zur Pflichtliteratur während meiner Bezirksschulzeit. Bereits einige Jahre später, liess ich mir nämlich die Inhalte der obligatorischen zwölf Werke für die mündliche Deutschmaturitätsprüfung am Abend davor von meiner Schwester am Telefon zusammenfassen. Bestanden habe ich trotzdem. Aber knapp.

Auch beim FC Mutschellen bestritten wir im letzten Winter «wie üblich» eine tolle Vorbereitung. Wie üblich war das Trainingslager ein Vollerfolg, aber «plötzlich», nach dem vorletzten Test gegen den FC Muri, folgte aufgrund des Coronavirus der Lockdown und die Saison wurde abgebrochen. Ein Gefühl, wie wenn man nach den Sommerferien das Ventil der Luftmatratze öffnet. Viel hatten wir uns vorgenommen, nicht nur wir. Ein Blick auf die Tabellen der abgebrochenen Saison zeigt, dass die Freiämter Teams vor einer vielversprechenden Rückrunde standen. Mit den Fanionteams des FC Muri und des FC Wohlen gleich zwei Teams auf Aufstiegskurs, mit dem Drittligisten FC Bremgarten und unserem FC Mutschellen in der zweiten Liga gab es zwei weitere Teams in Lauerstellung auf die Spitzenteams. Aber auch der FC Sarmenstorf sowie der FC Niederwil hatten vermutlich die Lehren aus der Vorrunde gezogen und wären bereit gewesen, ihr wahres und starkes Gesicht zu zeigen. Schade, dass wir den Ausgang der Rückrunde nie erfahren werden.

Das «Plötzliche» oder «Unerwartete» zieht sich wie ein roter Faden durch meine Vergangenheit als Fussballspieler. Im Alter zwischen knapp 17 und 22 Jahren erlebte ich bereits ein riesiges Auf und Ab: Die Aufnahme ins Nationalliga-B-Kader des FC Baden sowie das plötzliche Interesse des Grasshoppers Club Zürich bis zum unerwarteten operativen Eingriff aufgrund eines angeborenen Herzfehlers und dem Wechsel sowie dem Meistertitel mit dem FC St. Gallen. Ein stetes Auf und Ab, das mich bis zu meinem Karriereende begleiten sollte.

Während 15 Jahren stand der an erster Stelle. Mit dem Beginn meines Studiums an der pädagogischen Hochschule im Herbst 2003 begann jedoch bereits ein Umdenken. Das Bewusstsein, dass die Zeit nach einer sportlichen Karriere bis hin zum Pensionsalter noch lange dauert, war fortan ein ständiger Begleiter. Ich erinnere mich an meine erste Vorlesung, als ich nach langer «Literaturabstinenz» wieder etwas lesen musste, das etwas anspruchsvoller war, als der Sportteil im Blick. Lesen und verstehen? Fehlanzeige! Aber ich wusste, dass es irgendwie schon klappen würde. Mittlerweile unterrichte ich seit zwölf Jahren an der Sekundarschule in Wohlen und seit Kurzem, begleite ich auch Studierende, wenn sie zu uns ins Praktikum kommen.

Wenn ich mich mit Freunden und Bekannten unterhalte, werde ich oft nach meiner Meinung gefragt, inwiefern der Beruf des Lehrers einen Vorteil in der Arbeit als Fussballtrainer darstellt. Oft wird auch im Profifussball auf ein pädagogisches Studium eines Trainers, wie im Falle von Othmar Hitzfeld oder auch Peter Zeidler, hingewiesen, als wolle man indirekt einen Zusammenhang zwischen Lehrdiplom und deren erfolgreichen Arbeit als Trainer erkennen. Ich bin nicht dieser Meinung. Viel mehr denke ich, dass sich die eigene Kritikfähigkeit sowie das Bewusstsein, die Art und Weise, wie man kommuniziert (vor allem auch nonverbal) stark auf die Spieler auswirken und die Leistung eines Teams entscheidend positiv beeinflussen können. Etwas einfacher ausgedrückt, sind Reflexion und die Beziehungsebene die wichtigsten Faktoren. Gerade wenn ein Team, wie in unserem Fall, viele Spieler auf einem ähnlichen Niveau hat, ist es für mich als Trainer etwas vom Wichtigsten, die Moral aller Spieler möglichst aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, dass jeder Spieler genügend Spielzeit erhält. Die erwähnten Fähigkeiten und die damit verbundenen Ausbildungen sind heute wohl in fast jedem Berufsfeld ein wichtiger Bestandteil – nicht nur an der pädagogischen Hochschule.

In meiner Zeit als Fussballer durfte ich Trainer wie Marcel Koller, Gérard Castella, Alain Geiger, Vladimir Petkovic, Martin Rueda oder Maurizio Jacobacci erleben. Alle haben meine eigene Arbeit als Trainer geprägt. Im taktischen Bereich haben mich speziell die offensiven Spielideen von Martin Rueda sowie die Schulung der Defensive bei Maurizio Jacobacci beeinflusst. Wenn ich jedoch an die überfachlichen Kompetenzen denke, hat mich Nobi Fischer, mit dem wir mit dem FC Muri in die 1. Liga aufgestiegen sind, am meisten beeindruckt. Sein respektvoller und wertschätzender Umgang und vor allem die Fähigkeit, mit den unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Spieler auch in schwierigen Situationen umgehen zu können, stellten die wichtigste Voraussetzung für unseren Erfolg dar. Dieses souveräne Handeln in Konf liktsituationen trennt wahrscheinlich in jedem Berufsfeld die Spreu vom Weizen.

Nun geht es also wieder los. Erneut haben alle Teams eine Vorbereitung hinter sich. Wie üblich nervten sich wohl alle Trainer über die ferienbedingten Absenzen ihrer Spieler. Immerhin werden wohl die meisten «Rasen gesperrt»- Schilder auf den Fussballplätzen des Freiamts nicht zu sehen sein. Die pandemiebedingte Pause hat die Plätze geschont und lässt zumindest die ersten Runden auf Wembley-Rasen spielen. Wir freuen uns riesig auf das «Plötzliche» und «Unerwartete» in der neuen Fussballsaison. Bei einem neuerlichen Lockdown würde ich ein weiteres Buch von Max Frisch lesen. Wie wäre es mit «Antwort aus der Stille»? Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt und wir wieder unseren Sport geniessen können.

Sergio Nicola Colacino, 42 Jahre alt, lebt in Wohlen, ist verheiratet, Vater von zwei Söhnen und Hundehalter. Der Italiener ist Trainer des FC Mutschellen in der 2. Liga und wurde letzte Saison Aargauer Cupsieger. In seiner Karriere spielte er für den FC St. Gallen, den FC Wil, den FC Wohlen, die AC Bellinzona und den FC Muri. Er hat fast 200 Spiele in der Challenge League und über 90 Super-League-Partien absolviert. Dazu hatte er Einsätze mit dem FC St. Gallen im UEFA-Cup. Colacino wurde 1999/2000 mit dem FC St. Gallen Schweizer Meister. Er unterrichtet an der Sekundarschule im Wohler Junkholz.


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