«Stägeli uf, Stägeli ab»

  11.08.2020 Benzenschwil

«Erlebt – Senioren erzählen von früher»: Ruedi Seehofer, ein Stehaufmännchen

Am 29. Dezember 1938 erblickte Ruedi Seehofer in Zollikon das Licht der Welt. Seine Lebensgeschichte hat der 82-jährige Benzenschwiler sogar in einem Buch festgehalten. Sie ist geprägt von Höhen und Tiefen. Doch aufgeben kam und kommt für ihn nicht infrage.

Susanne Schild

«Wohl war mir das Glück günstig, aber immer nur bis zu einem gewissen Grad. Nirgends war mein Sieg ein vollständiger. Er führte mich auf Höhen, um mich tief abstürzen zu lassen. Trotzdem war ich nie des Lebens müde und schaue auch heute noch mit Zuversicht in die Zukunft», beschreibt Ruedi Seehofer sein Leben. Der Eigentümer eines der grössten Box-Archive Europas wagt stets Neues. Er hangelt sich von Ast zu Ast, kaum einmal dort, schon wieder weg. Der Gewinner von «Dopplet oder nüt» vermag zu verblüffen: Kellner, Koch, Barmann, Käsehändler, Geschirrverleiher und vieles mehr ist er schon gewesen.

Ein Buch über sein Leben veröffentlicht

Stets von Neuem will er seine Träume aus der Nacht in den Morgen retten und verwirklichen. Erfinder ist er auch und zuverlässiger Resultatsammler des Innerschweizerischen Fussballverbandes. Ob an der Street Parade in Zürich oder auf der Bühne mit Bligg, auch heute noch ist Ruedi Seehofer offen für alles Neue. Nachdem er die AHV-Grenze überschritten hatte, hielt er die Bilanz seines bisherigen Lebens in einem Buch fest.

Damals war er 66 Jahre alt. Geboren wurde Seehofer am 29. Dezember 1938 in Zollikon. «Ich bin also noch ein Vorkriegsprodukt», lacht der 82-Jährige. «Ich bin nicht als eine Edelpflanze herangewachsen, sondern eher als eine Unkrautpflanze, welche immer wieder gejätet wird und doch neue Wurzeln fasst, um erneut nachzuwachsen. Wie heisst es so schön: ‹Unkraut vergeht nicht.›» Sein Vater war gebürtiger Österreicher, weshalb der damals dreijährige Ruedi mit seiner Familie im Herbst 1941 die Schweiz verliess und «heim ins Reich» nach Österreich zog. Das letzte Lebenszeichen von seinem Vater war 1944 eine Karte von der Front. «Die habe ich heute noch.» Im gleichen Jahr wurde seine Mutter von der Gestapo verhaftet. Bis Kriegsende war sie in Bad Aichach bei München inhaftiert. Ruedi Seehofer kam während dieser Zeit zu einer Tante. «Dank meiner unkontrollierten Freiheit wurde ich zu einem der bekanntesten und grössten Lausbuben unseres Ortes.»


«Ich gebe niemals auf»

«Erlebt – Senioren erzählen von früher» mit Ruedi Seehofer aus Benzenschwil

Ein Leben voller Schlappen und Enttäuschungen, aber auch voller Erfolge, die nur nicht lange anhielten. «Es ist halt immer wieder dumm gelaufen. Irgendwie.» Unzählige Male hat er versucht nach oben zu kommen und ist jedes Mal wieder jäh nach unten gestürzt, um dann doch wieder aufzustehen.

Susanne Schild

Die Kindheit von Ruedi Seehofer war durch den Krieg geprägt. Mit sieben Jahren war er mit Abstand der jüngste Drittklässler. Mit neun Jahren brannte er von zu Hause durch. Als Oberschüler testete er seine boxerischen Fähigkeiten bei seinen Mitschülern aus. In der gleichen Zeit begann er, alles über den Boxsport zu sammeln. Das ist auch heute noch sein grösstes Hobby. Seine turbulente berufliche Laufbahn liest sich wie ein Hindernislauf. Neben diversen Konkursen ist seine Scheidung wohl die grösste Krise in seinem Leben gewesen. Ruedi Seehofer spricht über seine aussergewöhnliche Lebensgeschichte.

Ich habe mein Leben lang gekrampft, kam nie zu spät zur Arbeit, war nie krank. Einfach mit dem Geldverdienen klappte es nie so richtig. Verzweifelt bin ich deswegen aber nicht. Natürlich hätte ich auch oft stempeln gehen können, um ein Arbeitslosengeld zu bekommen, aber das liegt mir nicht. Wer arbeiten will, findet immer eine Stelle. Ich bereue nichts. Es geht immer weiter, ich boxe mich durch. Ich habe schon viele Schläge im Leben eingesteckt und ausgeteilt.

In meinem letzten Schuljahr, als ich wieder eine Schlägerei hatte, da packte mich eine starke Männerhand von hinten am Kragen und riss mich mit aller Gewalt von meinem Gegner los. Es war der Trainer vom Ring-Club der Nachbargemeinde St. Johann. Er meinte zu mir, dass es besser für mich wäre, wenn ich meine Kraft nicht auf der Strasse, sondern in der Halle beim Training mit den Ringern einsetzen würde. Davon war ich begeistert und ich befolgte seinen Rat. Von da an änderte sich mein Leben komplett. Ich gewann bereits bei meiner ersten österreichischen Jugendmeisterschaft die Silbermedaille und wurde später sogar ins Olympiakader aufgenommen für die Olympiade 1956 in Melbourne. Alles scheiterte wie so oft in meinem Leben am Geld. Ich war gezwungen, die Sportart aufzugeben, denn als Ringer musste man damals jeden Start im In- und Ausland aus eigener Tasche bezahlen. Ich hatte halt nie viel Geld, darum ist vieles schiefgelaufen. Nach acht Jahren Schulzeit war es endlich so weit, dass ich mit dreizehneinhalb Jahren den Weg in meine Zukunft antreten konnte. An meinem letzten Schultag am 12. Juli 1952 verliess ich mein Elternhaus und trat eine Stelle als Anfangskellner an. Diese Stelle bekam ich dank meinem Ringer-Trainer. Ich hatte das Bild vor Augen, später ein eigenes Hotel oder Restaurant zu besitzen. Während dieser Zeit wurde ich ein wahrhaft braver Bursche. Ich erhielt ein sehr gutes erstes Arbeitszeugnis.

Nach meinem Lehrabschluss zog es mich in die Schweiz, um mich dort in der damals weltbesten Gastronomie weiter auszubilden. Ich bewarb mich in Arosa für die kommende Wintersaison. Nach einer Woche erhielt ich bereits die Zusage. Ich packte meine Siebensachen und sah mich schon bald als Hoteldirektor irgendwo in der Schweiz. Nach einem Monat war ich zwar noch kein Direktor, aber immerhin Demi-Chef. In dem Hotel habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Menschen kennengelernt, von welchen ich nur geträumt oder die ich im Film gesehen hatte. Auch «Hazy Osterwald» spielte bei uns. Das Zeugnis, welches ich damals erhielt, öffnete mir bei allen weiteren Stellenbewerbungen sämtliche Türen.

Mit meiner beruflichen Karriere ging es sehr rasch aufwärts. Bereits als 22-Jähriger bekam ich meine erste Stelle als Oberkellner. 1959 verschlug es mich beruflich an den Thunersee. Dort lernte ich meine zukünftige Ehefrau kennen. Iris war die Auserkorene, sie hatte fantastische Beine, denn mein Blick gilt zuerst den Beinen. Natürlich muss das Gesicht und sonst auch alles stimmen. Am 26. Januar 1960 traten wir in den Hafen der Ehe ein. Kurze Zeit später kam unsere erste gemeinsame Tochter zur Welt, welche ich so vergötterte, dass sie mit Ausnahme meiner Frau niemand auf den Arm nehmen durfte, aus Angst, man könnte sie fallen lassen.

Im Herbst 1963 wurde ich Chef de Service im Restaurant Schwanen in Luzern. Ich war bei unseren Gästen so beliebt und viele sagten sogar, wir gehen zum Seehofer statt in den Schwanen. Viele prominente Gäste besuchten uns regelmässig, unter anderem Sophia Loren, Audrey Hepburn, Lex Barker, Catarina Valente und viele mehr. Im Mai 1964 gebar meine Frau unsere zweite Tochter. In dieser Zeit wurde mir immer mehr bewusst, dass ich trotz gutem Lohn mein Ziel, ein eigenes Restaurant zu übernehmen, nie erreichen würde. Ich überlegte, was zu tun sei, um auf seriöse Art viel Geld verdienen zu können. Die Idee kam mir beim Zähneputzen, als ich meine Tube mit der Zahnpasta betrachtete, urkomisch zerdrückt, dies galt auch für Senftuben im Gastgewerbe. Ich erfand eine Vorrichtung zum Tubenauspressen. Wieder einmal scheiterte alles am Geld. Ich war nicht finanzkräftig genug, um meine «Vorrichtung zum Auspressen von Tuben» zu produzieren. Einige Zeit später war Morgenröte in Sicht. Meine grosse Leidenschaft galt dem Boxsport. Ein Gast empfahl mir, mich mit meinem Wissen über das Boxen beim Fernsehen für die Sendung «Dopplet oder nüt» anzumelden. Am 26. Oktober 1967 erhielt ich mein erstes Aufgebot. Ich schaffte es in die Endrunde. Nach einem Nervenkitzel für mich und die Zuschauer war ich 4000 Franken reicher. Weil ich alles über das Boxen wusste, durfte ich endlich den Satz hören: «Sie haben gewonnen, Herr Seehofer.» Den Gewinn investierte ich in ein Kinderzimmer für meine beiden Töchter.

Pläne hatte ich viele und versucht habe ich auch vieles. Ich war Chef de Service, Reisebürochef, Chauffeur, Lädelibetreiber, Heizungsmonteur, Gärtner, Gipser, Promoter, Skiliftbetreiber. Fast immer, wenn ich versucht habe, mich selbstständig zu machen, ging ich nach kurzer Zeit pleite. Zuerst ist da eine Idee, dann investiere ich Geld, und am Schluss stehe ich mit Schulden und leeren Händen da. Ich kann einfach nicht anders, es treibt mich immer weiter. Aber ein Boxer steht auch immer wieder auf. Bleibt im Ring und kämpft weiter. Ich habe meinen Lebensstil selbst gewählt und darauf bin ich stolz. Denn sonst hätte ich vieles nicht erleben dürfen. Wie zum Beispiel meinen Tanzauftritt auf der Hip-Hop-Bühne mit dem Schweizer Mundartsänger Bligg. Oder die Street Parade in Zürich, die ich seit 2004 jedes Jahr besuche. Ein Fest, das alles Bisherige in meinem Leben in den Schatten stellte. Über eine Million Menschen so friedlich, fröhlich und glücklich, wo gibt es sonst noch so etwas.


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