«Sympathisch anders»
06.09.2022 GewerbeIn der Ausbildungsfiliale Aarau-Igelweid begleiten Beatrice Häsler (41) und Jasmin Widmer (39) Lernende mit Leistungsbeeinträchtigung.
Text: Pia Schüpbach Bilder: Michèle Büschi
Sogar auf die Carreise mit der Migros in den Europapark nahm die junge Frau ihre Schulbücher mit. «Frau Häsler, dann können wir auf der Fahrt zusammen lernen», sagte die Lernende zu ihrer Berufsbildnerin, welche ebenfalls im Car sass. Das ist Beatrice Häsler eingefahren. «Sie wollte unbedingt diese Lehre schaffen und hat jede Minute genutzt, um zu büffeln.»
An eben diese Lernende erinnern sich Beatrice Häsler und die zweite Berufsbildnerin in der Filiale Aarau-Igelweid, Jasmin Widmer, besonders gerne. «Sie war ein Sonnenschein, im Verkauf top, nur hat ihr eine Lernschwäche das Leben in der Schule schwer gemacht», erzählt Jasmin Widmer. So schwer, dass sie in der ersten Migros-Filiale die Lehre abbrechen musste. Doch der Sondereffort im Car und alle weiteren Stunden beim Büffeln allein oder mit den Berufsbildnerinnen fruchteten: Die junge Frau schloss ihre Lehre mit Erfolg ab. Eine Erfolgsgeschichte, eine, wie sie die Ausbildungsfiliale immer mal wieder schreibt.
So auch bei Salome Bühler. Die 24-Jährige ist im zweiten Lehrjahr. «In meiner ersten Lehre war noch in der Probezeit Schluss. Hier hingegen fühle ich mich wohl, die Leute und die Atmosphäre sind mega», sagt sie. Ihre Berufsbildnerinnen nebenan strahlen. Es ist auch ihr Verdienst, dass die zurückhaltende Frau nicht mehr nur an die Türe pöpperlet, sondern laut klopft und unterdessen sogar am Kundendienst steht, obwohl sie sich das zuerst nicht zugetraut hatte. «Das ist berührend», sagt Beatrice Häsler, die seit acht Jahren als Berufsbildnerin in Aarau junge Leute mit besonderen Bedürfnissen ausbildet.
Um dieser Aufgabe gewachsen zu sein, hat sie zum einen den Ausbildungskurs bei der Supporta (Band-Genossenschaft), zum anderen den Berufsbildungskurs bei der Migros Aare absolviert – genauso wie ihre Kollegin Jasmin Widmer. Zudem kommt Matthias Tomaske von der Supporta jeden Donnerstag vorbei, um die bis zu zwölf Lernenden und die Berufsbildnerinnen zu unterstützen.
Körperliche oder psychische Beeinträchtigungen
«Wir haben mit Menschen mit unterschiedlichsten Diagnosen zu tun», erzählt Jasmin Widmer. Auf den Plakaten in der Filiale steht: «Sympathisch anders». Sonst weist nichts darauf hin, dass in diesem Supermarkt Lernende mit einer Leistungsbeeinträchtigung arbeiten. Eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung, autistische Züge, Lernschwäche, ein Borderline-Syndrom oder Kriegstraumata sieht man nicht. Körperliche Gebrechen wie eine einseitige Lähmung hingegen nehmen auch die Kundinnen und Kunden wahr.
Beatrice Häsler geht auf in ihrer Arbeit. «Es sind ganz andere Themen als sonst im Detailhandel, ich entwickle mich sozial weiter und es ist eine tolle Sache.» Sie wünscht ihren Schützlingen, dass sie die gleichen Chancen erhalten, wie sie Menschen ohne Einschränkung haben. Jasmin Widmer möchte den jungen Menschen mitgeben, «immer an sich zu glauben».
Mehr als nur schulische Hilfe
Den Dreisatz hat Jasmin Widmer «voll im Griff». In den wöchentlichen zwei Stunden mit den Lernenden unterstützt die Detailhandelsfachfrau ihre Schützlinge beim Lernen. Gibt es andere Fragen, kommen die Lernenden ebenfalls auf die Berufsbildnerinnen zu. Da Beatrice Häsler zwei kleine Kinder hat, arbeitet sie momentan etwas weniger. «Ich bin aktuell eher für das Administrative zuständig.
Nicht immer gelingt die Integration der jungen Leute in die Ausbildungsfiliale. «Die Abbrüche, die tun weh», sagt Beatrice Häsler. Besonders, wenn ein Familienschicksal dahinterstecke und die jungen Leute keine Schuld trügen. In solchen Momenten hilft ihr der Austausch mit der Kollegin und mit der Supporta. Meistens aber schaffen die Lernenden den Abschluss: Und rund 80 Prozent werden danach im Arbeitsmarkt eingegliedert. Das ist der grösste Lohn für die Berufsbildnerinnen Jasmin Widmer und Beatrice Häsler. «Darum möchten wir nichts anderes mehr machen», sagen sie unisono.
Vier Ausbildungsfilialen
Die Migros Aare betreibt für junge Erwachsene mit Leistungseinschränkungen vier Ausbildungsfilialen in Aarau, Bern, Grenchen und Worb. Seit 2013 bietet sie damit den Jugendlichen eine berufliche Grundbildung im Detailhandel und die Chance auf einen erfolgreichen eidgenössischen Lehrabschluss. Das Projekt ist eine Zusammenarbeit mit Supporta (Band-Genossenschaft), den kantonalen IV-Stellen und anderen Kostenträgern. Dabei bildet die Supporta die Schnittstelle zwischen der Ausbildungsfiliale und den kantonalen IV-Stellen sowie den Sozialämtern. Während der ganzen Lehrzeit unterstützt sie die Berufsbildenden in den Ausbildungsfilialen und übernimmt das Coaching der Lernenden. Momentan absolvieren 27 junge Menschen ihre Lehre in einer Ausbildungsfiliale. Diesen August haben 14 ihre Lehre begonnen, davon fünf in der Migros Aarau-Igelweid. «Niemand der Lehrabgängerinnen und -abgänger hätte ohne die Ausbildungsfilialen eine Chance im ersten Arbeitsmarkt gehabt», sagt Matthias Tomaske, Fachperson Berufliche Integration bei der Supporta. «Und auch diejenigen, welche aus gesundheitlichen oder anderen Gründen die Lehre abbrechen mussten, haben eine wertvolle Erfahrung fürs Leben gewinnen können.»
Facts & Figures
– Im Schnitt 27 Menschen mit Leistungsbeeinträchtigung in Ausbildung in den vier Ausbildungsfilialen.
– Mehr als 300 berufliche Massnahmen (Schnupperlehren, Abklärungen, berufliche Grundbildungen) während der vergangenen neun Jahre.
– 47 Lehrabschlüsse (Eidgenössisches Berufsattest/ Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis).
– 24 Festanstellungen in der Migros Aare nach Lehrabschluss.
– ca. 80 % Eingliederungsquote im Arbeitsmarkt.