Wenn nur der Moment zählt

  10.07.2020 Wohlen

Brindarica Bose aus Wohlen lädt am Samstag an der Sommerbar zum Live Urban Sketching ein

Ihren Block und ihre Stifte hat sie immer dabei. Und wenn Brindarica Bose Zeit hat, setzt sie sich hin und zeichnet ihre Umgebung. Urban Sketching nennt sich die noch junge Kunstform, der sich die gebürtige Inderin verschrieben hat. Und in der sie auch Kurse gibt.

Chregi Hansen

Heute ist es eigentlich so einfach. Wer auf seinem Weg etwas Schönes entdeckt, der zückt einfach sein Handy und macht eine Aufnahme davon. Nicht so Brinderika Bose. Die Künstlerin greift lieber zu Papier und Stift. «Der Stift ist sozusagen mein Fotoapparat», lacht sie.

Der grosse Unterschied dabei: Das Knipsen eines Handy-Bildes benötigt keine Sekunde. Bose hingegen sitzt oft eine Stunde an einer Zeichnung. Der noch grössere Unterschied: Das Handy speichert einfach, was man sieht. Bis ins kleinste Detail. Bei Boses Zeichnungen hingegen steht nicht die Präzision im Vordergrund. «Es geht um den Moment, die Stimmung, nicht um ein genaues Abbild», sagt die Künstlerin. «Es ist keine professionelle Kunst, und das ist das Schöne. Jeder kann das, wenn er will.»

Junge Kunstrichtung

Urban Sketchers sind eine weltweite Gemeinschaft von Künstlern, die vor Ort die Städte, Orte und Dörfer zeichnen, in denen sie leben oder zu denen sie reisen. Ihre Zeichnungen stellen eine Art visuellen Journalismus dar, der das Leben so zeigt, wie die Künstler es vor ihren Augen geschehen sehen. «Für mich ist es fast wie Tagebuchschreiben», erklärt Bose. Ins Leben gerufen wurde die Bewegung 2007 durch den Journalisten Gabriel Campanario in den USA. Als Mitarbeiter der «Seattle Times» fertigte er Zeichnungen der Stadt an. Sein Ziel war die Förderung von Urban Sketching als journalistisches Zeichnen zur künstlerischen Darstellung des wirklichen Lebens.

Bose zeichnet überall. Mitten auf einem Platz, im Park, im Zug, an der Sommerbar, auf der Skipiste oder auch im Restaurant. «Am Anfang braucht es etwas Überwindung», gesteht sie. Man müsse alles andere ausblenden und einfach loslegen. Sich nicht ablenken lassen und sich nicht verkrampfen. «Einfach machen», wie es die zweifache Mutter erklärt. Genau das falle vielen ihrer Kursteilnehmer am Anfang schwer. Darum geht sie mit ihnen gerne an Orte mit vielen Menschen, zum Beispiel an den Bahnhof. «Ich versuche sie zu motivieren, es einfach zu versuchen. Man muss mit der Umgebung eine Verbindung aufnehmen. Alle Blockaden lösen. Das Technische kommt erst an zweiter Stelle.»

Menschen vereinen

Die 43-Jährige hat schon als Kind gerne gezeichnet. Aufgewachsen ist sie in den indischen Grossstädten Mumbai, Kalkutta, Ranchi. Sie hat einen Bachelor in Science und arbeitet in einem 60-Prozent-Pensum als Publikations-Managerin bei IABSE Zürich, einer weltweit vernetzten, wissenschaftlich-technischen Fachvereinigung des Ingenieurbauwesens. Zuvor war sie für eine führende Zeitung in Mumbai tätig. Inzwischen hat sie auch einen eigenen Verlag (Bose Creative Publishers), in dem sie ein eigenes Buch mit Kurzgeschichten, zwei Anthologien mit Beiträgen von indischen Frauen und zuletzt ein Werk mit Beispielen von Urban Sketching von ihr und anderen Künstlern herausgebracht hat.

«Es ist mein Ziel, die Menschen zusammenzubringen, etwas Gemeinsames zu schaffen. Darum bin ich froh, kann ich jetzt beim Künstlertreff Freiamt mitmachen», sagt sie. Auch Urban Sketching hat mit Austausch zu tun. Die Bilder werden – meist übers Internet – mit anderen geteilt und kommentiert. Man hilft sich, gibt Tipps, tauscht sich aus. Regelmässig finden Symposien und Kurse statt oder sogenannte Sketchcrawls – Anlässe, bei denen man sich trifft und gemeinsam zeichnerisch eine Gegend erkundet. «Gerade die Schweiz hat eine sehr aktive Szene», sagt Bose. «Sogar während der Coronazeit. Da gab es einmal den Aufruf, die eigene Küche zu zeichnen, da kamen ganz spannende Bilder zusammen.»

In die Schweiz kam sie der Liebe wegen. Ihr Mann, ebenfalls Inder, lebte schon früher hier. Seit rund sieben Jahren wohnt die Familie in Wohlen. «Es ist ein wunderbarer Ort zum Leben. Hier kennen sich die Leute, man kommt schnell in Kontakt», sagt sie. Sie engagiert sich auch im Elternrat der Schule. Daneben ist Brinda, wie sie von den meisten genannt wird, gerne auf Reisen. Auch dabei hat sie immer ihren Block und ihre Stifte dabei. Stolz zeigt sie ihre Werke aus der halben Welt. «Jedes Bild erzählt eine Geschichte», sagt sie und deutet auf eine Zeichnung der Freiheitsstatue. «Eigentlich wollten wir mit der Fähre zur Insel. Weil wir das Boot verpasst haben, habe ich die Szene eben gezeichnet.»

Wie im berühmten Lied von Mani Matter

Es gehört zum Wesen des Urban Sketching, dass es immer schnell gehen muss. «Man hat keine Zeit, an Details zu feilen, die Striche fliessen sozusagen aus einem raus.» Kommt dazu, dass die Szenerie lebt, dass oft Menschen durchs Bild laufen, mal da sind, dann wieder weg. Vor Kurzem hatte die Wohlerin ein lustiges Erlebnis. «Ich habe in Luzern an einem See gezeichnet. Vorne sass eine Frau im Gras. Irgendwann stand sie auf, packte ihre Sachen, kam zu mir und meine: Jetzt geht es Ihnen wie dem Maler in Mani Matters Lied von der Kuh am Waldrand, die aus dem Bild lief», erzählt sie lachend. Auch das gehöre zum Sketchen dazu, dass eine Zeichnung mal nicht ganz fertig werde. Oder dass man wegen der vielen Mücken die Arbeit einstellen muss. «Aber wenn ich richtig loslege, dann bin ich wie in einer eigenen Welt, dann kann mich nichts ablenken.»

Morgen Abend allerdings lässt sich Brindarica Bose durchaus ablenken. Im Rahmen der Sommerbar wird sie vor Ort live zeichnen und zusätzlich andere Interessierte anleiten. «Die Sommerbar ist ein idealer Ort, um zu sketchen. Es hat viele Menschen, die Stimmung ist fantastisch, alle sind entspannt», schwärmt die Künstlerin. Was sie genau machen will, das ist noch offen. «Ich bin da ganz spontan und gespannt, was alles passiert.» Aber eines ist gewiss – als Besucher der Sommerbar wird man am Samstag wohl Teil eines wunderbaren Bildes werden.


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