Wette gilt – auch ohne Einsatz
14.11.2025 Politik, MuriEin Thema, zwei Welten
Tempo 30 auf allen Gemeindestrassen Muris – am 30. November wird an der Urne entschieden
Die Befürworter argumentieren mit Sicherheit und Lebensqualität, die Gegner wittern Bevormundung. Tempo 30 ...
Ein Thema, zwei Welten
Tempo 30 auf allen Gemeindestrassen Muris – am 30. November wird an der Urne entschieden
Die Befürworter argumentieren mit Sicherheit und Lebensqualität, die Gegner wittern Bevormundung. Tempo 30 bewegt.
Annemarie Keusch
Boswil, Bettwil, Buttwil und jetzt Muri. Tempo 30 bewegt die Gemüter. In all diesen vier Dörfern sagte die Bevölkerung an der «Gmeind» Ja, wurde aber nach einem erfolgreich ergriffenen Referendum an die Urne gebeten. In Boswil und Bettwil wurde flächendeckend Tempo 30 schliesslich abgelehnt, in Buttwil befürwortet. Wie Muri entscheidet, wird sich am 30. November zeigen.
Die SVP-Ortspartei ergriff das Referendum. 649 Unterschriften wurden eingereicht. Im Juni standen an der «Gmeind» der Einführung von Tempo 30 auf allen Gemeindestrassen 259 Ja- 92 Nein-Stimmen gegenüber. «Beides», antwortet Roman Roth, Präsident SVP Muri, auf die Frage, ob es darum gehe, dass der Entscheid noch breiter abgestützt wird, oder ob seine Partei Tempo 30 auf den Sammelstrassen verhindern wolle. Denn um diese geht es ganz konkret. In den Quartieren herrscht schon länger Tempo 30, nun entscheidet die Bevölkerung darüber, ob dies künftig auch in der Grindel-, der Bach- und der Spitalstrasse so sein wird. Roth spricht von Überreglementierung. Stefan Staubli, Präsident Muri Energie Forum, sagt: «Tempo 30 führt zu weniger Lärm, mehr Sicherheit und mehr Lebensqualität.» Die beiden treffen sich zum Gespräch.
Muri entscheidet am 30. November an der Urne über Tempo 30 auf allen Gemeindestrassen
Die Verantwortung bei der Bevölkerung lassen und nicht alles überreglementieren. Roman Roth, Präsident SVP-Ortspartei, ist gegen Tempo 30 auf allen Gemeindestrassen. Anders sieht es Stefan Staubli, Pro Komitee Tempo 30. Er appelliert an mehr Sicherheit und mehr Lebensqualität.
Annemarie Keusch
Primär geht es um drei Sammelstrassen: die Grindelstrasse, die Spitalstrasse und die Bachstrasse. Denn in den Quartieren herrscht bereits seit einiger Zeit Tempo 30. An der «Gmeind» Ende Juni sagte eine grosse Mehrheit Ja zu diesem Projekt. Die SVP-Ortspartei ergriff dagegen erfolgreich das Referendum. Präsident Roman Roth und Stefan Staubli, Präsident des Muri Energie Forums, nennen ihre Argumente und reagieren auf jene der Gegenseite.
Tempo 30 bringe mehr Lebensqualität. Warum wollen Sie das nicht?
Roman Roth: Diese Frage stellt sich so für mich nicht. In Muri gilt vielerorts Tempo 30. Es geht um die Sammelstrassen. Lebensqualität heisst nicht, dass der Strassenraum quasi ein erweitertes Wohnzimmer ist. Die Strasse muss auch dem Verkehr dienen. Lebensqualität definiert sich nicht darüber, dass kein Auto eine Strasse passiert. Für andere bedeutet Lebensqualität, ohne überzogene Einschränkungen von Punkt A zu Punkt B zu gelangen.
Ist es für Sie Lebensqualität, auf Sammelstrassen Tempo 50 fahren zu können?
Roth: Nein. Lebensqualität ist grundsätzlich, wenn man den Leuten Verantwortung überträgt. Alles zu überreglementieren, im Glauben, damit die Welt zu verbessern, das geht für mich nicht. Es sind viele kleine Punkte, die die Welt so lebensfeindlicher machen. Das ist für uns der Kern des Problems, weniger ob man langsamer oder schneller fahren darf.
Warum bringt denn Tempo 30 mehr Lebensqualität?
Stefan Staubli: Natürlich geht es nicht darum, dass die Anwohner nachher ihre Stühle auf der Strasse platzieren. Auf den Sammelstrassen gibt es ein grosses Verkehrsaufkommen und entsprechend auch viel Lärm. Tempo 30 reduziert diesen Lärm in der Wahrnehmung quasi um die Hälfte. Wieso sollen die rund 300 Liegenschaften an diesen Sammelstrassen nicht auch dieselben Bedingungen in Sachen Lärm haben wie andere, wo bereits Tempo 30 herrscht? Hinzu kommt, dass der Verkehr bei Tempo 30 mehr ein Miteinander ist. Das Kommunizieren aller Verkehrsteilnehmenden ist einfacher.
Roth: Das kann ich nachvollziehen, weil ich selbst lärmsensitiv bin. Ich bin nicht der Meinung, dass die Leute stur 50 km/h fahren sollen. Dass man Rücksicht nimmt, hat auch mit Vertrauen zu tun. Man muss die Freiheit der anderen akzeptieren. Kommt hinzu, dass die Anwohner der Sammelstrassen genau wussten, worauf sie sich einlassen. Vielleicht konnte man die Verkehrszunahme nicht in diesem Ausmass vorhersehen. Aber wer in einer beruhigten Zone wohnen will, muss sich eben eine solche Möglichkeit suchen. Klar stört es mich auch, wenn beispielsweise jemand zu schnell an Kindern vorbeifährt. Aber ich bin der Meinung, man soll den Menschen etwas zutrauen. Bevormundungen stören mich. Warum verfügt man nicht gleich ein Fahrverbot? Dann ist ganz Ruhe.
Würden Sie das wollen?
Roth: Nein, natürlich nicht.
Schränkt Tempo 30 die Freiheit ein?
Staubli: Es ist eine Frage der Definition. Für mich besteht Freiheit darin, dass wir als Gesellschaft die Regeln des Zusammenlebens frei bestimmen. Was die Eigenverantwortung der Verkehrsteilnehmenden betrifft, bin ich nah bei Ihrer Meinung. Man muss die Einschränkungen grundsätzlich nicht suchen. Aber hier ist es eine Aufwertung der Lebensqualität. Gerade beim Lärm. Dieser wird vom Verursacher anders wahrgenommen als von jenen, die ihn ertragen müssen.
Roth: Ich gebe Ihnen diesbezüglich recht. Es ist aber auch eine Tatsache, dass Tempo 30 eine aggressive und laute Fahrweise nicht ausschliesst. Tempo 30 ist kein Heilmittel für Vernunft.
Warum braucht es Tempo 30 auch auf den Sammelstrassen?
Staubli: Weil dort der Verkehr am dichtesten ist. Zählungen ergaben 1600 Fahrzeuge an Werktagen auf der Grindel- und der Bachstrasse. An der Spitalstrasse dürfte die Zahl noch höher sein, auch wenn aktuelle Zahlen fehlen. Da steht für mich der Sicherheitsaspekt an erster Stelle. Der Bremsweg ist bei geringerem Tempo nun mal viel kürzer.
Roth: Natürlich. Nur gibt es in Muri keine alarmierende Unfallstatistik oder andere Vorkommnisse, sonst hätte man schon lange etwas verändert. Ich bin überzeugt, dass die Leute die jetzige Verkehrssituation beherrschen.
Staubli: Da muss ich Ihnen widersprechen. Statistiken der Beratungsstelle für Unfallverhütung zeigen klar, dass bei einer Temporeduktion von 50 auf 30 die Zahl der tödlichen Unfälle um 38 Prozent abnahm. Soweit sind mir aktuell gerade keine schweren Vorfälle in Muri bekannt. Aber es könnte auch hier passieren.
Roth: Klar, jeder Tote ist einer zu viel. Aber hier kommt wieder meine Schlussfolgerung, dass nur kein Verkehr sicherer Verkehr ist.
Sie sind anderer Meinung?
Staubli: Ja. Es geht nicht darum, dass der Strassenverkehr verboten werden soll. Alle fahren Auto, ich auch. Die Frage ist nur, wie schnell das auf den Sammelstrassen möglich sein soll. Das Sicherheitsargument ist für mich belegt. Wenn man es so anschaut, dass auf den Sammelstrassen am meisten Fahrzeuge unterwegs sind, hätte man auf diesen eigentlich als erstes Tempo 30 einführen müssen, anstatt in den kleinen Quartierstrassen. Zumal mit der Siedlungsentwicklung viel mehr Menschen an den Sammelstrassen leben, auch Kinder, deren Schulweg über diese Sammelstrassen führt.
Roth: Das sehe ich anders. Ich bin der Meinung, dass mehr Leute durch Quartiere fahren, wenn die Sammelstrassen auch mit Tempo 30 belegt werden. Mehr Verkehr in den unübersichtlichen, schmalen Quartierstrassen, das können wir doch nicht wollen. Das bringt ebenso ein Unfallrisiko mit sich.
Staubli: Das kann in Einzelfällen sein. Aber ich sehe anhand der Strassenpläne keine drohende Verkehrsverlagerung.
Die Staubelastung ist gerade zu Stosszeiten gross. Welchen Einfluss hat Tempo 30 auf allen Gemeindestrassen darauf?
Roth: Einen negativen. Aus Erfahrung weiss ich, dass reduziertes Tempo dazu führt, dass Autos noch öfter still stehen.
Staubli: Da bin ich anderer Meinung. Auch hier belegen Studien, dass Tempo 30 den Verkehrsfluss nicht hindert, im Gegenteil. Speziell beim dichteren Verkehr. Je langsamer der Verkehr rollt, desto geringer sind die Fahrzeugabstände und entsprechend ist die Frequenz höher. Aber dass es in Muri schlicht zu dichten Strassenverkehr gibt, ist eine Tatsache. Das können wir mit Tempo 30 nicht lösen.
Eine Folge von Tempo 30 ist, dass es weniger Fussgängerstreifen gibt. Dabei sind doch Fussgängerstreifen für die Sicherheit sehr wichtig.
Staubli: Das ist so. Gemäss Norm sind in 30er-Zonen keine Fussgängerstreifen vorgesehen. Aber es gibt Ausnahmen, auch aktuell schon in Muri, etwa an der Klosterfeldstrasse. Das wird in begründeten Fällen nach wie vor möglich sein. Aber man kann es auch anders anschauen. Fussgängerstreifen in Tempo-50-Zonen führen immer wieder zu gefährlichen Situationen. Die Fahrzeuge müssen anhalten, der aufschliessende Verkehr muss aufmerksam sein. Bei Tempo 30 können die Fussgänger die Strasse überall passieren, haben aber keinen direkten Vortritt.
Roth: Sind wir ehrlich. Praktisch und faktisch hat der Fussgänger Vortritt.
Tempo 30 ist in Muri kein neues Thema. Vor über zehn Jahren wurden die ersten Quartiere damit ausgestattet. Auch die f lächendeckende Einführung war schon ein Thema, scheiterte aber. Ist der Zeitpunkt nun der richtige, bei den Sammelstrassen einen erneuten Anlauf zu nehmen?
Roth: Als Tempo 30 mit Ausnahme der Sammelstrassen angenommen wurde, führte das parteiintern zu grossen Diskussionen. Ein Referendum lag damals schon in der Luft. Wir entschieden uns dagegen, im Sinne eines Kompromisses und hofften, dass damit diesbezüglich Ruhe einkehrt. Der SVP geht es auch nicht darum, Tempo 30 abzuschaffen, wir wollen aber den Status quo beibehalten. Nun diskutieren wir schon wieder darüber.
Ist es Zwängerei?
Staubli: Nach neun Jahren wieder eine Auslegeordnung zu machen, ist legitim. Bevölkerung, Verkehr, Wohndichte – alles hat in dieser Zeit zugenommen. Entsprechend finde ich eine erneute Diskussion darüber keine Zwängerei.
Roth: Natürlich hat sich die Welt verändert. Aber wir haben in Muri nicht das Problem, dass es dauernd Verletzte gibt auf den Strassen. Darum finde ich nicht, dass es eine Anpassung braucht.
Stört es Sie, in Strassen maximal 30 km/h zu fahren?
Staubli: Das mache ich in Tempo- 50-Gemeindestrassen schon ganz oft. Nein, es stört mich nicht.
Roth: Strassen gehören auch zum Wirtschaftssystem. Wir leiden jetzt schon unter vielen Stauminuten. Das kostet. Selbstverständlich explodieren diese Kosten nicht, wenn in Muri auch auf den Sammelstrassen das Tempo reduziert wird. Aber den Wirtschaftsfaktor der Strassen erachte ich als sehr relevant. Zudem befürchte ich, dass die nächste Idee zu weiteren Einschränkungen nicht lange auf sich warten lässt. Dass Auswärtige die Strassen nicht mehr passieren dürfen oder was weiss ich. Es kann nie genug sein.
Stimmt das?
Staubli: Das ist ein Klischee. Ich empfinde das Komitee, das sich für Tempo 30 in Muri einsetzt, nicht als ideologischen Verein. Es geht im Wesentlichen um die drei Sammelstrassen und darum, die Lebensqualität und Sicherheit an diesen zu erhöhen.
Roth: Ich wette darum, dass in rund fünf Jahren über eine Reduktion auf Tempo 20 oder andere Massnahmen diskutiert wird. Noch mehr Sicherheit, noch leiser – diese Spirale wird nie durchbrochen. Natürlich immer in der guten Absicht.
Gehen Sie diese Wette ein?
Staubli: Vermutlich werden wir in fünf Jahren tatsächlich über solche Thematiken diskutieren. Aber nur an ausgewählten Orten. Im Bahnhofareal zum Beispiel. Oder an der Marktstrasse. Ist es eine Aufenthaltszone oder ist die Verkehrsfrequenz wichtiger? Tempo 20 könnte zum Thema werden. Aber das werden Einzelfälle sein. Flächendeckend aber sicher nicht. Da würde ich diese Wette eingehen.


