Wie die Ameisen

  29.12.2020 Kolumne

Stefan Sprenger, Redaktor.

Man sammelt 100 rote Feuerameisen und 100 schwarze Ameisen und wirft sie in ein Einmachglas. Nichts passiert, die Insekten bleiben friedlich. Schüttelt man aber den Behälter, gehen sie aufeinander los. Rot gegen Schwarz. Bis zum Tod. Die Ameisen denken, die «anderen» sorgen für die Erschütterung und bedrohen ihr Leben.

Angetroffen habe ich diese Geschichte auf Facebook. Sie soll veranschaulichen, was momentan in unserer Gesellschaft geschieht – und schiefgeht. Eine Distanzierung der Menschen. Denn: Rot gegen Schwarz bedeutet auch Impf befürworter gegen Impfkritiker, Maskenträger gegen Maskengegner, Einheimische gegen Ausländer, SVP gegen Grüne, Biden gegen Trump, Fleischesser gegen Vegetarier, Basel gegen Zürich, Villmergen gegen Wohlen (okay, etwas übertrieben), Weiss gegen Schwarz – und so weiter.

In diesen Tagen, wo wirklich jeder eine Meinung zu Corona und den Massnahmen hat, ist diese Kluft zwischen den Menschen viel stärker spürbar. Ob in den sozialen Medien oder im Kaffee-Gespräch auf Distanz: Die Meinungen gehen so weit auseinander wie die Lebensumstände der einzelnen Menschen. Die Emotionen sind riesig und köcheln vor sich hin. Dies, weil man – wie die Ameisen – von Corona durchgeschüttelt wurde und sich an Leib und Leben bedroht fühlt.

Ich recherchiere die «Ameisen-Story» und finde die Auuösung. Ameisen verhalten sich nicht so, wie in dieser Geschichte beschrieben wird. «Treffen verschiedene Arten von Ameisen aufeinander, entspricht es ihrem natürlichen Verhalten, sich feindlich zu begegnen», sagt ein Biologe. Anstacheln durch Schütteln ist gar nicht nötig, sie bekriegen sich sowieso.

Bei uns Menschen ist das ein wenig anders. Es braucht einen emotionalen Auslöser, um Aggressionen zu entwickeln. Wie zum Beispiel die Coronapandemie, die uns allen viel abverlangt hat. Es war ein Jahr, das eine ganz andere Optik auf unser Leben verschafft hat. Verzicht war angesagt. Viele Dinge waren mühsam. Einige Veränderungen wurden schätzen gelernt. Wir alle hoffen auf Besserung im Jahr 2021. Für uns sollte sich die Frage stellen: Wer schüttelt unseren Behälter – und wieso?


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