Wohlen war einst Brennpunkt
09.06.2020 WohlenVor einem halben Jahrhundert wurde erstmals die Ausländerfrage gestellt. Und emotional diskutiert. Die Schwarzenbach-Initiative hat die Schweiz damals durchgeschüttelt. Auch den Kanton Aargau, und Wohlen im Speziellen. Darum ist das Freiämter Regionalzentrum ein wichtiger Teil des neuen Dokumentarflms «Die Fieberkurve des Zusammenlebens». --dm
«Haben auf einem Traum gebaut»
Im Dokumentarfilm «Die Fieberkurve des Zusammenlebens» nimmt Wohlen eine gewichtige Stellung ein
Die Italiener in der Schweiz. Genau vor einem halben Jahrhundert wurde dieses Thema emotional diskutiert. Wohlen war eines der regionalen Zentren auch in dieser Frage. Dies wird nun in einem Dokumentarfilm thematisiert. Der Streifen ist ein neues Kapitel von «Zeitgeschichte Aargau».
Daniel Marti
Die Begrenzung der Zuwanderung ist ein stets wiederkehrendes Thema. Ein ewiger Brennpunkt, der das Zusammenleben der Schweizerinnen und Schweizer mit der ausländischen Bevölkerung in den Mittelpunkt rückt. Vor 50 Jahren hatte die Zuwanderungsdebatte erstmals Hochkonjunktur. Emotional, intensiv und national. Am 7. Juni 1970 verwarf das Schweizer Stimmvolk ganz knapp eine Initiative der Nationalen Aktion. Die Begrenzung der Zuwanderung blieb trotzdem präsent.
Die Angst vor der Überfremdung
Die Initiative wurde nach dem Politiker James Schwarzenbach benannt. Das 50-Jahr-Jubiläum der Schwarzenbach-Initiative wurde vom Team «Zeitgeschichte Aargau» zum Anlass genommen, das Thema in einem Dokumentarflm zu beleuchten. Der Wohler Fabian Furter ist Co-Leiter von «Zeitgeschichte Aargau». Der Autor des Dokflmes ist Fabian Saner.
«Die Fieberkurve des Zusammenlebens», so lautet der Titel des Streifens. Er dokumentiert Aargauer Migrationsgeschichten seit der Schwarzenbach-Initiative.
James Schwarzenbach sah die Schweiz bedroht und gefährdet durch die Zuwanderung. Er rechnete vor fünf Jahrzehnten vor, dass die Schweiz im Jahr 2000 ein 10-Millionen-Land sein werde. Daher sollte die drohende Überfremdung verhindert werden. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz durfte künftig nicht mehr als zehn Prozent betragen, forderte er. Bei einer Annahme der Initiative hätten Tausende von Gastarbeitern, vor allem aus Italien, die Schweiz verlassen müssen. «Im Aargau hätten mehr als 10 000 Arbeitskräfte ausreisen müssen», heisst es im Film. Der Aargau war jedoch eine Boomregion nach dem Zweiten Weltkrieg, und die benötigte ganz viele Arbeitskräfte.
Wohlen setzte mit Bauwerken ein Zeichen
Der Kampf um den roten Pass mit dem weissen Kreuz war defnitiv entbrannt. Dieser Kampf wurde auch im Freiamt, vor allem in Wohlen ausgefochten. Wohlen spielt denn auch im knapp 30-minütigen Werk eine der Hauptrollen. Vor allem mit dem Circolo Acli und seinen Akteuren wie Ennio Carint und Don Silvano Francola, der als Seelsorger die Gastarbeiter betreute. Der Bau des Kinderhortes Peter Dreifuss und der Begegnungsstätte Rösslimatte wird in «Die Fieberkurve des Zusammenlebens» thematisiert. Auch Claudio Conidi, Autor des Buches «Die Italiener von Wohlen», und der damalige Gemeindeammann Rudolf Knoblauch kommen zu Wort.
«Muss ich denn eine Fotokopie eines Schweizers werden?», fragt Ennio Carint zu Beginn des Films. Nein. Er habe die guten Sachen der Schweiz gerne als wertvoll für sein Leben weitergenommen. Carint erzählt, wie der Bau der Rösslimatte erfolgt ist, wie Circolo Acli zum Treffpunkt des gesamten Freiamts wurde. Zweieinhalb Jahre lange habe man geplant und projektiert. «Wir Italiener beteiligten uns mit Tausenden von Stunden an Fronarbeit.» Kirchgemeinden und Einwohnergemeinde lieferten fnanzielle Unterstützung. «Es war ein Traum, der Wirklichkeit geworden ist. Aber wir haben auf einem Traum gebaut», so Carint. Menschen, die nicht träumen können, würden etwas verpassen. Und noch etwas Wesentliches sagt Ennio Carint im Film: «Niemand ist Chef dieser Welt.»
Unterschwellige Fremdenfeindlichkeit feststellbar
Schwieriger war die Realisation des Kinderhortes, der für die Gastarbeiter-Kinder angedacht war. «Wir wollen uns vom menschlichen Gedanken leiten lassen», sagte der damalige Gemeindeammann Rudolf Knoblauch. Trotzdem lehnte das Stimmvolk den Baukredit in der Höhe von 250 000 Franken ab. «Die Notwendigkeit wurde trotzdem erkannt», blickt Historiker Claudio Conidi zurück.
Im Abstimmungskampf wurde auch die Rolle der Frau thematisiert, die Italienerfrau soll zu Hause bleiben und den Kindern schauen, lautete ein Kritikpunkt. «Dabei waren die italienischen Frauen bestens in den Arbeitsprozess integriert», so Conidi, der rückblickend in Wohlen eine «gewisse unterschwellige Fremdenfeindlichkeit» feststellte.
Nur wenige Monate nach dem Volksnein wurde der Kinderhort im Jahr 1973 trotzdem gebaut – einfach dank privater Unterstützung von Peter Dreifuss.
Schwarzenbach zu Besuch in Wohlen
Zurück zur Schwarzenbach-Initiative. Der Abstimmungskampf zur Initiative wurde im Aargau und in genauso emotional geführt wie andernorts in der Schweiz. In gab es sogar eine Veranstaltung mit James Schwarzenbach, die von mehreren Hundert Leuten besucht wurde.
Das Resultat war im Aargau ein knappes Nein, während acht Kantone die Initiative annahmen. «Insofern stimmte der Aargau gleich ab wie die Mehrheit der Schweizer Kantone und trug zum knappen Nein der Initiative bei», so Autor Saner. Drei Bezirke – Kulm, Lenzburg und Zofngen – verzeichneten Ja-Mehrheiten. Die beiden Freiämter Bezirke Bremgarten mit dem Brennpunkt Wohlen und Muri stimmten mit einer knappen Nein-Mehrheit.
Der Dokumentarfilm Die Fieberkurve des Zusammenlebens» ist zu sehen unter folgender Adresse: www.zeitgeschichte-aargau.ch
«Emotionen wurden übertragen»
Fabian Saner, Autor «Die Fieberkurve des Zusammenlebens»
Der Titel des Dokumentarflms ist treffend: «Die Fieberkurve des Zusammenlebens». Der Autor, Fabian Saner, betont, dass die italienischen Gastarbeiter zum Aufbau des Wohlstands in der Schweiz beigetragen haben. Und die Schweizer Bevölkerung könnte dies noch stärker zur Kenntnis nehmen.
Stichwort Verhältnis mit der EU und Personenfreizügigkeit. Wie wertvoll ist dieser Dokumentarfilm in der ständigen Diskussion rund um das Thema Ausländer in der Schweiz?
Fabian Saner: Das Ziel des Films ist, zu zeigen, wie gewisse Diskussionen seit 50 Jahren geführt werden und dass es oft um Zahlen – 10 Prozent Ausländer bei Schwarzenbach, später 18 Prozent bei der Initiative von Philipp Müller – geht. Auch gewisse Ängste und Emotionen wurden von der einen auf die nächste Personengruppe übertragen. Diese Diskussionen haben auch mit den Leuten, die in die Schweiz gezogen sind, etwas gemacht. Diese Menschen haben sich selbst aktiv in die Schweizer Gesellschaft eingebracht.
Sind die Italiener, die hier geblieben sind, also die erste bis dritte Generation, so richtig gute Schweizer? Oder sind diese Personen mehr Schweizer als Italiener?
Für mich ist das schwierig zu beantworten. Ich antworte mit Nunzia Macorig aus Laufenburg, die im Dokumentarflm spricht: Sie will mitreden und hat sich deshalb einbürgern lassen. Und Ennio Carint sagt, Assimilation sei nicht der richtige Weg. Was ich aus meinem Umfeld sagen kann, ist, dass Leute der zweiten und dritten Generation sich hier engagieren und Familien gründen und dass eben auch viele der ersten Generation nicht in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sind, obwohl sie vielleicht relativ lange noch daran dachten. Viele haben gemerkt, dass es wie eine zweite Auswanderung geworden wäre, im Alter wieder zurückzukehren.
Im Dokfilm kommt es zum Ausdruck. Die italienischen Gastarbeiter haben stark zum Aufbau des Wohlstands in der Schweiz beigetragen. Wie ist Ihre Wahrnehmung, wie bewusst ist das der Schweizer Bevölkerung heute?
Ich denke schon, dass das in der Schweizer Bevölkerung noch mehr zur Kenntnis genommen werden dürfte. In den letzten Jahren gab es nun einige Bücher, Ausstellungen, Filme, die das Leben der Italiener in der Schweiz thematisieren, das wird also langsam zu einem Thema auch der Geschichtsvermittlung. Dies noch mehr als bei anderen Herkunftsgruppen wie Türken oder Ex-Jugoslawen, deren Zahl kleiner ist oder war. --dm
Stets angepackt mit Don Silvano
Im Dokumentarfilm «Die Fieberkurve des Zusammenlebens» wird auch Don Silvano Francola genannt. Er, der Geistliche für die italienische Bevölkerung. Drei Jahre lang wollte er nach Wohlen kommen, 44 Jahre ist er geblieben, von 1969 bis 2013. Don Silvano war einer der grössten Integrationshelfer der Region, des ganzen Freiamts.
Die italienische Community um Don Silvano habe sich auch durch negative Entscheide wie beim Bau des Kinderhorts in Wohlen «nicht beirren lassen», so Fabian Saner, der Filmautor. Die Italiener haben stets selbst angepackt, was sicher beispielhaft war für viele Zuwanderer. Diese haben eben nicht «nur» gearbeitet, «sondern sich auch am gesellschaftlichen Leben beteiligt». Begegnungszentrum Rösslimatte und Kinderhort sind zwei Werke aus dieser Zeit unter starker Mithilfe der Italiener in Wohlen, «die heute ganz selbstverständlich zur Gemeinde gehören und geschätzt werden». An vielen Orten sind solche Initiativen entstanden und erfolgreich umgesetzt worden.
Man hat also vor Ort gemeinsam pragmatisch Probleme gelöst, während die öffentlichen Debatten oft sehr stark emotional geprägt waren von der Frage «Wie viele dürfen es sein?». Diese Frage, so der Autor, habe natürlich auch die Zuwanderer, die Italienerinnen und Italiener, stark beschäftigt. --dm