«Schicksal entkommt man nicht»

  02.02.2024 Region Oberfreiamt

Das Massaker überlebt

Andrey Kalashnikov erzählt über Butscha

Die RS Freiamt hat prominenten Besuch erhalten. Andrey Kalashnikov, Bronzemedaillen-Gewinner in Atlanta, hat seinen Freund Andrey Maltsev in der Schweiz besucht. Es ist keinesfalls selbstverständlich, dass das möglich ist. Denn Kalashnikov war in der ukrainischen Kleinstadt Butscha, als sie vom russischen Militär besetzt wurde. Zahlreiche Zivilisten sind beim Massaker von Butscha ums Leben gekommen. Kalashnikov hat überlebt und erzählt über die Zeit unter russischer Besetzung. Und wie ihm seine Ringerkarriere das Leben gerettet hat. --jl


Andrey Maltsev erhält Besuch von Andrey Kalashnikov – einem Überlebenden des Massakers von Butscha

Früher hat Andrey Kalashnikov in der Ukraine die Freiämter Reto Bucher und Pascal Strebel auf Olympia vorbereitet. Jetzt war er bei seinem Freund Andrey Maltsev und der RS Freiamt zu Besuch. Rund zwei Jahre nachdem er das Massaker von Butscha überlebt hat.

Josip Lasic

Die ukrainische Kleinstadt Butscha ist zum Synonym für die Grausamkeiten geworden, die die Zivilbevölkerung im Ukraine-Krieg erleiden muss. «Er kommt aus diesem Ort, der auf so traurige Weise berühmt geworden ist», sagt Andrey Maltsev. Im Ringerkeller der RS Freiamt sitzt ihm ein Freund mit markantem Namen gegenüber. Andrey Kalashnikov, früher selbst Ringer, ist eher klein. Während er über die Zeit der russischen Besetzung spricht, wirkt er trotzdem imposant. Er war vor Ort und hat überlebt. «Ich kann nur erzählen, was ich selbst gesehen und erlebt habe», sagt Kalashnikov. «Das heisst nicht, dass nicht auch Dinge passiert sind, die ich nicht gesehen habe. Aber was ich weiss: In diesem Krieg wird auf allen Seiten gelogen.»

Aus Tierliebe in der Stadt geblieben

Maltsev bewundert die Robustheit seines Freundes, die ihn schon als Ringer ausgezeichnet hat. Seine Ruhe, Geduld und den Hauch von Fatalismus. Kalashnikov sagt: «Du kannst dem Schicksal, das Gott für dich bestimmt hat, nicht entkommen.» Diese Weltanschauung half ihm, die Besetzung seiner Heimatstadt zu überleben.

Als die Russen kommen, kontrollieren sie die Bevölkerung. In erster Linie sind sie auf der Suche nach Soldaten. «Sie kamen gut vorbereitet, mit Listen der Stadtbewohner. Darauf stand, wer beim Militär war oder ein Aktivist. Sie wussten sogar, wo reiche und ärmere Familien wohnten. So detailliert, wie das alles war, vermute ich, dass der Krieg schon seit 2014 geplant war. Und so, wie unser Militär reagiert hat, war man schon lange auf einen Angriff vorbereitet. Aber die Bevölkerung wusste nichts davon.» Nachdem alle überprüft wurden, stellen die Russen den Menschen frei, zu bleiben oder zu gehen. Kalashnikov bleibt. «Meine Hündin hatte gerade Junge bekommen. Sieben Stück. Ich wollte die Tiere nicht sich selbst überlassen. Und transportieren konnte man sie nicht.» Seine Frau und seine Schwiegermutter leiden jedoch unter der Situation. «Ich musste sie zum Gehen zwingen.» Sie finden Unterschlupf bei einem Ringerkollegen in der Westukraine. Nicht zum letzten Mal kommt ihm seine sportliche Karriere zu Hilfe. Nachdem seine Familie in Sicherheit ist und er den Russen versichert, nicht zu fliehen, durchstechen sie seine Autoreifen.

Ringerohr als Lebensretter

Maltsev und Kalashnikov kennen sich seit über 30 Jahren. Aufgrund des Krieges in der Ukraine haben sie sich drei Jahre lang nicht gesehen. Eine Sondergenehmigung ermöglicht Kalashnikov jetzt das Reisen, da er Teil des Trainerstabs der ukrainischen Nationalmannschaft ist. «Sie waren in einem Trainingslager in Kroatien, und er hat mich auf dem Rückweg besucht», sagt Maltsev. «Dabei hat er auch ein Training bei uns geleitet. Sehr zur Freude von Pascal Strebel.» Während seiner Aktivzeit holt Kalashnikov mehrere Medaillen an Europameisterschaften, wird 1994 WM-Dritter und holt 1996 in Atlanta Olympia-Bronze. Es sind die ersten Sommerspiele, an denen die Ukraine als unabhängige Nation teilnimmt. Später bereitet er die Freiämter Reto Bucher und Pascal Strebel auf die Olympischen Spiele vor und ermöglicht immer wieder Mitgliedern der RS Freiamt, in der Ukraine zu trainieren.

Seine Vergangenheit als Olympionike hat ihm vielleicht das Leben gerettet. Nach einigen Wochen brauchen die Welpen feste Nahrung. Die Geschäfte arbeiten während der Zeit der Besetzung allerdings nicht. Kalashnikov trägt seine Olympiakleidung, als er mit einem Freund in einem verlassenen Supermarkt Futter klaut. Für die kleinen Hunde und für die älteren Nachbarn. «Auf dem Rückweg wurden wir von russischen Soldaten kontrolliert. Ich hatte einen Berg von Lebensmitteln dabei. Für die Russen war klar, dass ich damit die ukrainischen Truppen versorgen wollte. Ich sollte verraten, wo sich die Soldaten verstecken.» Kalashnikov erklärt, dass er sich ausweisen kann, und zeigt auf sein Ringerohr. In der Sowjetunion habe er mit vielen grossen russischen Ringern trainiert. Er zeigt den Soldaten sein Handy und sagt, dass er die Nummern der Leute im russischen Verband gespeichert habe und sie ruhig anrufen und nachfragen könnten, ob er die Wahrheit sage. Zusammen mit seinem olympischen Tenue und dem Ringerohr glauben ihm die Soldaten. Und weil Sport, insbesondere Ringen, in Russland einen sehr hohen Stellenwert hat, verschonen sie ihn. «Sie haben mir sogar angeboten, mich nach Weissrussland zu evakuieren. Aber ich habe ihnen die jungen Hunde und die Häuser meiner alten Nachbarn gezeigt. Die wären ohne meine Hilfe alle verhungert.»

Zwischen Menschlichkeit und Rache

Die Zeit der russischen Besetzung ist hart. Es gibt keinen Strom, kein Gas, kein Wasser und kein Internet. Kalashnikov heizt mit Holz und holt Wasser aus einem Brunnen. Er kann sein Handy im Auto aufladen und schreibt seiner Frau SMS, wenn ein schwaches Signal vorhanden ist. Der Olympionike ist froh, dass er so viel zu tun hatte. «Ich habe mich um die Welpen gekümmert oder meinen Nachbarn geholfen. Wenn man Zeit zum Nachdenken hatte, ging es einem schlecht. Die Menschen haben dann nur gebetet.»

Kalashnikov erzählt von den unterschiedlichen Verhaltensweisen der Soldaten gegenüber der Bevölkerung. Ehemalige Gefängnisinsassen waren nie so anständig zu den Menschen wie Berufssoldaten. Die Situation verschlimmert sich, als Ukrainer eine russische Militärkolonne in Butscha zerstören und der Vormarsch auf Kiew stockt. Aus Rache beginnen die Soldaten auf alles zu schiessen, was sich bewegt. «Man konnte das Haus kaum noch verlassen, ohne unter Beschuss zu geraten. Danach hatten sie die Frechheit, zu sagen, dass der Krieg eine Schlägerei unter Brüdern ist. Ich habe gesagt, dass unsere Leute getötet wurden und dass das niemand vergessen wird. Meine Familie hat mich später gefragt, wie ich so mit den Russen sprechen konnte. Aber in der Zeit hat man beinahe miteinander gelebt und konnte über vieles sprechen.»

Kaum noch Spuren der Besetzung

Nachdem die Russen Butscha verlassen, dauert es noch zwei Monate, bis die Bevölkerung zurückkehren kann. Heute erinnert nicht mehr viel an diese Zeit. «Ein Milliardär hat den kompletten Wiederaufbau finanziert. Ich kann in der Stadt nichts zeigen, was an die Besetzung erinnert. Von Butscha waren rund zehn Prozent zerstört. Ich frage mich, warum wir so prominent in den Medien waren. In anderen Orten gab es viel mehr Zerstörung und Tote. Niemand berichtet darüber. Das ist wohl Politik.»

Kalashnikov geht es so weit gut. Stolz zeigt er Videos von seinen Hunden. Alle sind wohlauf. Ob er böse auf die Russen sei? «Schwierige Frage. Ich habe in meiner Zeit als Ringer viele Russen kennengelernt, mit ihnen trainiert, gelebt, quasi vom selben Teller gegessen. Ich habe die Sowjetunion international repräsentiert. Das waren schöne Zeiten. Soll ich das alles vergessen? Das ist wie mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Man kann kein ganzes Volk hassen. Aber auf die Politiker kann man wütend sein.» Ein baldiges Ende des Krieges sieht er nicht. «Die Russen geben nicht nach und wir auch nicht. Solange wir Unterstützung aus dem Westen haben, haben wir eine Chance zu kämpfen.» Was danach kommt, weiss er nicht. Wieder ist es seine Weltanschauung, die ihm hilft, damit umzugehen. «Dem Schicksal, das Gott für dich bestimmt hat, kannst du nicht entfliehen.»


Das Massaker von Butscha

Die Stadt Butscha wird zu Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 besetzt. Nach dem Abzug der russischen Truppen Ende März werden zahlreiche zivile Opfer gefunden, die erschossen, gefoltert oder zu Tode geprügelt wurden. Diese Serie von Kriegsverbrechen wird als «Massaker von Butscha» bezeichnet. Anhand dieser Vorfälle sieht man, dass dieser Krieg auch ein Informationskrieg ist. Verschwörungstheorien kursieren um die Geschehnisse in der Stadt. Vonseiten Russlands wird jegliche Beteiligung an Folterungen und Tötungen bestritten. --jl


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