Gegen Armut und Foodwaste
20.02.2024 MuriFür viele eine wichtige Stütze
Seit 15 Jahren leistet Tischlein deck dich wertvolle Lebensmittelhilfe in Muri
Jedes Jahr verteilt die Murianer Abgabestelle von Tischlein deck dich mehrere Zehntausend Kilogramm Lebensmittel – allein ...
Für viele eine wichtige Stütze
Seit 15 Jahren leistet Tischlein deck dich wertvolle Lebensmittelhilfe in Muri
Jedes Jahr verteilt die Murianer Abgabestelle von Tischlein deck dich mehrere Zehntausend Kilogramm Lebensmittel – allein 2023 waren es 34 501.
Celeste Blanc
Je länger, je stärker rückt sie in das kollektive Bewusstsein, die Lebensmittelverschwendung. Gemäss Angaben vom Bundesamt für Statistik werden in der Schweiz auf dem Weg vom Feld zum Teller jährlich etwa ein Drittel der Lebensmittel vernichtet, was etwa 2,8 Millionen Tonnen entspricht. Gleichzeitig leben über 745 000 Menschen in der Schweiz in Armut und müssen, um ihren Alltag bestreiten zu können, den Gürtel enger schnallen. Hier setzt Tischlein deck dich an: Die Schweizer Organisation sammelt bei Grossverteilern Lebensmittel, die eigentlich weggeworfen werden, ein – und gibt sie an jene weiter, die um Unterstützung froh sind. Insgesamt gibt es schweizweit 158 Abgabestellen, eine davon ist seit 2009 in Muri.
Oftmals mit Scham verbunden
Rund 180 Personen kommen wöchentlich ins Jugendhaus Muri13, um Lebensmittel zu beziehen. «Obwohl das Angebot Entlastung bringen soll, ist für viele der Beziehenden der Gang zur Abgabestelle eine seelische Belastung», weiss Peter Rüetschi, der die Abgabestelle seit nun acht Jahren leitet. Diese Zeitung hat die Abgabestelle im Muri 13 besucht, und mit Helferinnen und Helfern wie auch einer Betroffenen gesprochen.
Wöchentlich profitieren rund 180 Menschen von der Abgabestelle Tischlein deck dich in Muri
Seit 15 Jahren trägt die lokale Abgabestelle Tischlein deck dich ihren Teil dazu bei, der Verschwendung von Lebensmitteln vorzubeugen, indem diese an Menschen verteilt werden, denen das Geld knapp ist. Diese Zeitung wirft einen Blick hinter die Arbeit der Organisation vor Ort. Und eine Betroffene erzählt, wieso für sie die Unterstützung mit Scham behaftet ist.
Celeste Blanc
Es ist kurz vor 9.30 Uhr an diesem klaren, kalten Wintertag. Die Sonnenstrahlen fallen durch die grosse Fensterfront auf der Südseite des Aufenthaltsraums im Jugendhaus Muri13. Seit einer halben Stunde trudeln die Leute ein. Mittlerweile hat sich der Raum mit Menschen gefüllt, viele der Sitzgelegenheiten sind besetzt. Wer nicht sitzen kann, der steht am Fenster und schaut hinaus, andere wiederum sind an die Wand gelehnt und leise in ein Gespräch vertieft.
Wie jeden Dienstag hat sich das Muri13 zur regionalen Abgabestelle der Organisation Tischlein deck dich gewandelt, bei der jeweils fünf Helfende unter der Leitung von Peter Rüetschi Lebensmittel verteilen. Stand heute unterstützt die Lebensmittelhilfe wöchentlich im Schnitt 180 Personen. Und die Tendenz ist steigend, weiss Leiter Rüetschi aus Erfahrung. Seit acht Jahren koordiniert er als Leiter die Oberfreiämter Abgabestelle. «Als ich 2015 die Leitung übernommen habe, waren es um die 50 Personen, die jeweils vorbeikamen. Heute sind es dreimal so viel.»
Manchmal gibt es Goodies
Bereits seit zwei Stunden sind Rüetschi und sein Team im Einsatz. Es gilt, die Räumlichkeiten vorzubereiten sowie die Waren, die durch einen Lastwagen kurz nach 8 Uhr vorgefahren werden, zu sortieren. Hauptsächlich stammen diese von Coop-Grossverteilerzentren in Baar und Staufen. Es sind Lebensmittel, die in den Läden nicht mehr verkauft werden dürfen, weil das Verkaufsdatum überschritten ist. Und das, obwohl sie noch verwend- und essbar wären. Genau an dieser Thematik setzt Tischlein deck dich an: Seit 25 Jahren sammelt die Organisation schweizweit jene Lebensmittel (sowie teilweise auch Alltagsprodukte wie Shampoos und Zahnpasta) ein und gibt sie an jene Personen weiter, die den Gürtel etwas enger schnallen müssen. Doch nicht nur Grossverteiler liefern Lebensmittel – in Muri sind es auch regionale Geschäfte oder Bauern, die Lebensmittel abgeben. «Wir bekommen unwahrscheinlich viel Gemüse und Früchte», erklärt Peter Rüetschi. Hinzu kommen teilweise Fleisch aus Metzgereien und Brotwaren von Bäckereien.
Damit die Lebensmittel gerecht verteilt werden, gibt es für bestimmte Produkte eine vorgegebene Mindestanzahl an Personen. So etwa bei Reis und Rösti, die nur an Haushalte gehen, in denen mehrere Personen wohnen. Selten gibt es auch speziellere Dinge. So an diesem Morgen, an dem zahlreiche Zweifel-Chips-Packungen bereitstehen und darauf warten, mitgenommen zu werden. «Das sind manchmal die Goodies», erzählt Ilona Licini aus Buttwil. Seit drei Jahren gehört sie zum insgesamt 20-köpfigen Helferteam, das die Lebensmittel verteilt. Die Helfenden kommen aus dem ganzen Freiamt. So auch in der aktuellen Schicht, die Licini mit Bea Marti (Oberlunkhofen), Gaby Schiess (Merenschwand) und Barbara Beynon (Jonen) bestreitet.
Mit Rat und Tat zur Seite
Bei den Frauen herrscht gute Laune. Während sie die Lebensmittel sortieren, wird geplaudert und gelacht. Die Gründe für das Engagement sind bei den vier Damen ganz unterschiedlich: Man will etwas Gutes tun, sich sozial engagieren. Oder man möchte seinen Teil dazu beitragen, dem Foodwaste vorzubeugen. Manchmal sind es auch private Bekanntschaften und Geschichten, die zum Engagement bewegen. Wie etwa bei Ilona Licini: «Ich kenne eine Bezügerin und weiss, wie wertvoll und hilfreich die Arbeit ist. Und wenn man selbst nicht mehr arbeitet und Zeit hat, ist das eine sehr dankbare Aufgabe.» Auch stehen die Helfenden manchmal mit gutem Rat zur Seite. Dann etwa, wenn die Beziehenden, zu denen unter anderem auch Asylsuchende zählen, nicht wissen, wie die zur Verfügung gestellten Lebensmittel gekocht oder verwendet werden sollen. «Dann gibt es Frauen, die gerne Auskunft und Kochtipps geben», erklärt Barbara Beynon.
Ein Drittel der Lebensmittel wird verschwendet
Dank der Arbeit von Tischlein deck dich konnten an der Abgabestelle Muri im letzten Jahr 35 501 Kilogramm Lebensmittel verteilt werden. Blickt man auf die letzten 15 Jahre zurück, konnten seit der Eröffnung der Murianer Abgabestelle im Jahr 2009 214 000 Kilogramm an Lebensmitteln im Wert von über 1,28 Millionen Franken gerettet werden. «Es ist so eine gute Sache, von der alle profitieren», so Rüetschi. Und er gibt zu bedenken, dass es «haarsträubend» sei, wie die Gesellschaft mit Nahrungsmitteln haushaltet. «Können wir es uns denn leisten, Lebensmittel wegzuwerfen, wenn andere finanzielle Schwierigkeiten haben, diese regulär zu beziehen?», fragt der Leiter, der vom Pausenraum aus das Treiben im Warteraum beobachtet.
Gemäss einer Studie der ETH Zürich aus dem Jahr 2019 geht ein Drittel aller essbaren Anteile von Lebensmitteln zwischen Acker und Teller verloren oder wird entsorgt. Die Lebensmittelverschwendung lässt sich pro Jahr in der Schweiz auf 2,8 Millionen Tonnen ermitteln. Dies entspricht ungefähr 330 Kilogramm vermeidbaren Lebensmittelverlusten pro Person und Jahr. Der Bund hat dieses Problem schon länger erkannt: Mit einem Aktionsplan will der Bundesrat die vermeidbaren Lebensmittelverluste bis 2030 (gegenüber 2017) halbieren.
Wenn der Gang am Selbstwertgefühl nagt
Während die Helferinnen im Hinterzimmer die Waren sortiert haben und für die Abgabe bereit sind, warten die Bezügerinnen und Bezüger vorne darauf, dass ihre Nummer gezogen wird. Wessen Nummer zuerst gezogen wird, der darf zuerst beziehen. Anders als früher ist seit einigen Jahren alles viel anonymer geworden, erzählt Rüetschi. «Es werden keine Namenslisten geführt. Auch finden weniger Gespräche mit Beziehenden statt. Lediglich die Bezugskarten werden kontrolliert.»
Primär geht es um den Persönlichkeitsschutz der Betroffenen. Aber bei vielen würde auch die Scham mitschwingen, weshalb man auf Distanz geht. «Viele haben das Gefühl, sozial abgestiegen zu sein. Das nagt an ihnen», so Rüetschi. Die Bezügerinnen und Bezüger setzen sich aus vielen unterschiedlichen Personengruppen zusammen: nebst Ukrainerinnen und Ukrainern auch aus Asylsuchenden, Rentnerinnen und Rentnern oder Arbeitnehmenden, bei denen das Gehalt nicht zum Leben reicht. So wie bei Rahel (Name von der Redaktion geändert). Regelmässig schaut sie dienstags mit ihrem vierjährigen Sohn vorbei. Für die 40-jährige alleinerziehende Mutter ist das Angebot von Tischlein deck dich eine grosse Entlastung. Obwohl Rahel als gelernte Krankenschwester in einem Spital ausserhalb des Kantons eine gute Arbeit hat, ist es mit dem Gehalt eines 60-Prozent-Pensums für Miete, Lebensmittel und Kinderbetreuung knapp. «Allein im Januar habe ich etwa 1300 Franken für Betreuungskosten ausgegeben. Da wird das Budget schon strapaziert.»
Ein Vorbild sein – trotz schwieriger Zeiten
Für Rahel war der Gang zu Tischlein deck dich anfänglich mit grossen Hemmungen verbunden. «Ich habe mich wirklich geschämt, als ich in der Mütterberatung auf das Angebot hingewiesen wurde. Ich meine, ich war mein Leben lang arbeitstätig und habe meine Verpflichtungen erfüllt. Ich war immer ein selbstständiger Mensch, der für sich gesorgt hat. Da fühlte es sich tatsächlich als Abstieg an», erzählt sie.
Sich einzugestehen, dass man Hilfe benötigt, das war für Rahel ein ganz grosser Schritt. Auch wenn sie es nicht immer leicht hatte, etwa mit den nicht getätigten Unterhaltszahlungen, auf die sie angeweisen war. Denn die ersten anderthalb Jahre nach der Geburt ihres Sohnes hat die alleinerziehende Mutter keine Alimente erhalten, wogegen sie rechtlich vorging. «Zu dieser Zeit habe ich unter dem Existenzminimum gelebt.» Und obwohl sie nun zusätzlich die Unterhaltszahlungen erhält, lebe sie heute nach wie vor am Existenzminimum, erählt sie.
Auch heute noch kann sie nicht ohne Emotionen über ihre Situation sprechen. Immer wieder streichelt sie ihrem Sohn über den Kopf, während sich die Augen mit Tränen füllen. Doch auch wenn die Sorgen schwer auf den Schultern liegen – für ihren Sohn möchte sie stark sein. Ihm zeigen, dass man das Beste aus jeder Situation machen kann. So auch mit den Lebensmitteln, die bei Tischlein deck dich bezogen werden können: «Einmal haben wir viel Rahm bekommen. Da musste ich erfinderisch werden: Ich habe für meinen Sohn Eis gemacht. Er hat es geliebt.» Rahel möchte ein Vorbild für ihren Sohn sein. «Er soll sehen, dass man arbeiten gehen muss, dass man sich anstrengen muss. Er soll das im positiven Sinn für sich mitnehmen.»