«Fühle mich wie als Schüler»

  07.10.2022 Bremgarten

SP-Co-Präsident Stefan Dietrich über seinen Start im Grossen Rat und seinen Tanz auf vielen Hochzeiten

Seit rund einem Monat hat Bremgarten einen neuen Grossrat. Stefan Dietrich ist per Ende August für den Wohler Thomas Leitch innerhalb der SP nachgerückt. Nach der überraschenden Wahl im Frühjahr zum SP-Aargau-Co-Präsidenten ist es bereits das zweite kantonale Polit-Amt, das der 48-Jährige dieses Jahr übernimmt.

Marco Huwyler

Vor einem Monat sind Sie zur Vereidigung erstmals ins historische Aargauer Grossratsgebäude gepilgert. Wie haben Sie diesen feierlichen Moment und den Start als Grossrat erlebt?

Stefan Dietrich: Der Start war etwas holprig. An meiner eigentlichen ersten Sitzung war ich nämlich krank (lacht). So wurde ich erst eine Woche später, am 6. September, vereidigt. Ein schöner und mir wichtiger Moment. Und auch einer, während dem man sich der Verantwortung, die mit dem Amt einher geht, nochmals bewusst wird und man sich sagt, dass man dieser unbedingt gerecht werden möchte.

Trotz Ihrer langjährigen Polit-Karriere haben Sie noch keinerlei Parlamentserfahrung. Wie waren diese ersten Sitzungen für Sie?

Ich fühle mich ein wenig wie ein Schüler. Ich beobachte, studiere und versuche zu verstehen, mache mir viele Notizen. Dies wird während der nächsten Wochen weiterhin im Vordergrund stehen. Bis man die Abläufe, Begrifflichkeiten und Umgangsformen intus hat, dauert es eine Weile. Und bis dahin möchte ich mich als Neuling auch zurückhalten mit Vorstössen Ich denke, zu Beginn steht hier etwas Demut ganz gut an.

Was macht es denn schwierig, den Betrieb auf die Schnelle zu erfassen?

Nur schon die politischen Instrumente, die den Fraktionen und Kommissionen zur Verfügung stehen, sind eine Wissenschaft für sich. Interpellationen, verschiedene Arten von Motionen, Postulate etc. Wann was zur Anwendung kommt und weshalb. Und jede Form bringt jeweils wieder ihr ganz eigenes Vokabular mit. Auch wie man sich richtig verhält, will gelernt sein. Klatschen oder Lachen nach oder während einer Rede etwa ist nicht angebracht. Welch ein Unterschied zu Deutschland – oder gar zu Grossbritannien (lacht).

Wie erleben Sie die Mehrheitsverhältnisse im Parlament? Wie festgefahren bzw. flexibel sind diese?

Als Sozialdemokrat ist es bei der bürgerlichen Mehrheit im Aargau natürlich nicht immer einfach. Dennoch kann ich von dem, was ich bisher erlebt habe, sagen, dass der Grossrat durchaus lebendig ist und die Mehrheiten je nach Geschäft wechseln können. Und mit allen kann man jederzeit reden und diskutieren. Das ist schon mal ein gutes Zeichen.

Als SP-Bezirks- oder -Kantonal-Präsident können und konnten Sie stets relativ viel bewirken. Ihr Wort hat dort Gewicht. Im Grossen Rat sind Sie einer von 140. Der Einfluss ist also relativ klein.

Da gehe ich mit einem anderen Mindset ran. Einer von 140. Immerhin! Das ist doch ein ziemliches Gewicht. Verglichen etwa mit einer Volksabstimmung. Ausserdem hat man stets die Möglichkeit, durch Vernetzen, Gespräche und Argumente andere von etwas zu überzeugen. Ich bin bereit, kleine, emsige Schritte zu gehen und im Hintergrund Dinge langfristig aufzugleisen. Das liegt mir. Und das unterscheidet sich im Übrigen auch gar nicht so sehr von der Art und Weise, wie ich die Partei führe. Ich sehe mich auch da als einer von vielen. Als kleines, aber wichtiges Rädchen im grossen Ganzen, das sich fleissig in die richtige Richtung dreht.

Als Grossrat muss man eigentlich Experte für alles sein. Stimmt über komplexe Themen unterschiedlichster Art ab. Hand aufs Herz – verstehen die Parlamentsmitglieder überhaupt immer etwas von den Dingen, über die sie befinden?

Wir geben uns jedenfalls Mühe, zumindest kann ich das von mir behaupten (lacht). Ich lese mich vor jeder Sitzung gewissenhaft ein. Aber natürlich kann man nicht jedes Geschäft in seiner Komplexität begreifen. Dafür haben wir innerhalb der Partei Fachausschüsse, die sich intensiv mit den betreffenden Themen beschäftigen. Und denen vertraue ich dann im Zweifelsfall.

Wo möchten Sie sich denn im Grossrat vertieft engagieren?

Als Lehrer wäre es naheliegend gewesen, dass ich einen Fokus auf die Bildungspolitik legen würde. Gerne wäre ich deshalb in die Kommission des BKS. Doch letztlich wurde ich der Justiz-Kommission zugewiesen. Das wird eine Herausforderung für mich als Nicht-Jurist (lacht).

Welche Anliegen möchten Sie im Grossen Rat kurz- und mittelfristig durchbringen?

Momentan sind es vor allem die steigenden Preise, die schwindende Kaufkraft und die Energiekrise, die mich und die Sozialdemokraten umtreiben. Hier brauchen wir sinnvolle und schnelle Lösungen für einen raschen sozialen Ausgleich. Überhaupt möchte ich mich dafür einsetzen, dass der Kanton sozialer wird. Ein Erfolg bei den nächsten Wahlen würde natürlich helfen. Und bis dahin gilt es, pragmatisch zu sein und Mehrheiten zu finden, wo sie realistisch sind.

Als Grossrat müssen Sie also ein Stück weit Diplomat sein. Als SP-Co-Präsident dagegen durchaus auch keck, kämpferisch und mit einem klaren Profil. Wie bringt man diese beiden Rollen aneinander vorbei?

Das sind zwei verschiedene Hüte, die ich mir jeweils aufsetze, da haben Sie recht. Ich versuche jedoch, mich in beiden Rollen nicht allzu sehr zu verbiegen. Ich bin ein Mensch, kein Roboter, der einfach ein anderes Programm auffährt. Allen recht machen kann man es ohnehin nicht. Und im Partei-Präsidium hilft es natürlich enorm, dass ich nicht alleine bin und Nora Langmoen als Co-Präsidentin viele Dinge übernehmen und auch Themen besetzen kann.

Nach wie vor sind Sie auch Präsident der Bremgarter SP-Bezirkspartei.

Aber nicht mehr lange. Am 23.11. werde ich dieses Amt niederlegen können. Ich bin froh, dass wir eine hervorragende Nachfolge gefunden haben, die wir in einigen Wochen bekannt geben.

Dennoch bleiben Sie ein viel beschäftigter Mann. Neben den beiden Polit-Ämtern sind Sie nach wie vor in einem 80-Prozent-Pensum Lehrer, dreifacher Familienvater und engagieren sich mehrmals pro Jahr für das von Ihnen ins Leben gerufene Hilfswerk «Help Now».

Es ist mir wichtig, dass ich neben der Politik nach wie vor andere Tätigkeitsfelder habe. Das hilft einem beim Einordnen. Gerade wieder war ich mit meinem Kollegen Cédric Wermuth für Help Now ein paar Tage in der Ukraine (siehe Nebenartikel). Angesichts der dortigen Probleme und Herausforderungen verblassen die unsrigen und lassen sie vergleichsweise nichtig erscheinen. Als Grossrat und Parteipräsident mag man wichtige Ämter bekleiden, die man auch mit einer gewissen Ehrfurcht und einem Verantwortungsbewusstsein ausüben sollte. Aber man muss sich auch stets bewusst sein, dass es noch viel Wichtigeres und Ernsteres auf dieser Welt gibt.


In der Ukraine für Help-Now

Viertägige Reise ins Kriegsland

Der Schwerpunkt des von Stefan Dietrich 2015 gegründeten Hilfswerks Help Now lag bislang auf der sogenannten Balkanroute für Flüchtlinge, die auf diesem Weg unter prekären Verhältnissen nach Europa zu gelangen versuchen. In Bosnien-Herzegowina ist man auch weiterhin aktiv. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges sammelte das Hilfswerk aber auch Hilfsgüter für Geflüchtete aus der Ukraine. In privaten Konvois wurden diese nach Ungarn an die ukrainische Grenze gefahren.

Gemeinsam mit Cédric Wermuth besuchte Stefan Dietrich vom vergangenen Samstag bis Dienstag die Ukraine. Dabei wurden einige Hilfsgüter an Schulen übergeben. Dietrich und Parteikollege Wermuth wollten sich auf ihrer Reise ein Bild der Lage vor Ort machen und sich über die Bedürfnisse der Menschen direkt informieren, wie der Aargauer Co-Parteipräsident mitteilt.

Lage vor Ort und Eindrücke
Die beiden SP-Politiker besuchten die Stadt Užgorod, das administrative Zentrum der Region Transkarpatien, das vor dem Krieg mehr als 100 000 Einwohner hatte. Die Stadt befindet sich etwa 800 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt und von der umkämpften Region Nikolaew, östlich von Odessa. In der Region Transkarpatien befinden sich zurzeit mehr als 350 000 Binnenf lüchtlinge, die vor allem aus den umkämpften Regionen im Osten oder Süden des Landes stammen. Mehr als 100 000 sind Kinder und Jugendliche.

«Die Lage vor Ort wirkt surreal», erzählt Dietrich. «Die Menschen leben ihren Alltag. Junge sitzen in den Cafés und Restaurants, viele spazieren durch die Parkanlagen und die innerstädtischen Fussgängerzonen. Es wirkt alles nach grossstädtischer Normalität. Dennoch ist der Krieg allgegenwärtig. Öffentliche Gebäude, Verwaltungsgebäude und auch Schulen werden durch Sandsäcke gesichert, im Stadtbild trifft man immer wieder auf Soldaten und militärische Stellungen, auch scheinen Männer im wehrfähigen Alter zu fehlen.» Während ihres Aufenthaltes habe es an einem Morgen einen Luftalarm gegeben, ansonsten habe man vom Krieg direkt nichts gespürt.

Homeschooling ermöglichen
Der Fokus des Besuches von Dietrich und Wermuth lag auf den Schulen. In Užgorod findet der Schulunterricht nach wie vor statt.

Etwa 10–15 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind aus anderen Gebieten der Ukraine hierher geflohen. Sie wurden in die bisherigen Klassen integriert. «Da es mehr Schülerinnen und Schüler als Schulraum gibt, gibt es für die einen Vormittags- und für die anderen Nachmittagsunterricht», erzählt Dietrich. In den Schulen können nur so viele Schüler und Schülerinnen unterrichtet werden, wie in den Luftschutzräumen Platz haben. «Wir konnten einige Räume besuchen. Sie wurden in den letzten Monaten teilweise renoviert. Sobald es kälter wird, findet der Unterricht zuhause statt, da Schulen nicht beheizt werden können.»

Dieses Homeschooling finde auf Tablets oder am Handy statt. Um mehr Schülern für diese Art des Unterrichtens bessere Bedingungen ermöglichen zu können, haben Dietrich und Wermuth im Namen von Help Now einige Tablets verteilen können.

Das Schuljahr hält für Schülerinnen und Schüler gleichermassen grosse Herausforderungen bereit. «Im Gespräch mit unseren Dolmetscherinnen erfuhren wir, dass der Lehrstoff, für den ein Semester geplant war, aufgrund des Krieges in zwei Monaten zu absolvieren ist und die Studenten diesen einschliesslich der Prüfungen vor dem Winter abschliessen müssen», erzählt Dietrich. --huy

 

 


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