Der etwas andere Alltag

  12.07.2022 Kelleramt

Praktisch alle Facetten des täglichen Lebens sind darauf ausgerichtet, von «normativen», voll funktionsfähigen Körpern umgesetzt werden zu können. Doch wie machen es Menschen mit Beeinträchtigung? Die Sommerserie «Leben mit Handicap» möchte Einblick in ihren Alltag geben. Den Auftakt macht der 28-jährige Trompeter von «Tan Pickney» Ruben Beynon. --cbl


Umgang miteinander lernen

Sommerserie «Leben mit Handicap»: Ruben Beynon aus Jonen über sein Leben mit einem Arm

Ruben Beynon, Trompeter der bekannten Reggae-Band Tan Pickney, ist einarmig zur Welt gekommen. Der gebürtige Joner im Gespräch über Musik, Grenzen und der Diskriminierung im Alltag.

Celeste Blanc

Musiker in einer Band, Teilnehmer am Engadiner Radmarathon und leidenschaftlicher Boulderer in der Kletterhalle – der 28-jährige Ruben Beynon liebt Musik und ist gern sportlich unterwegs. So erst kürzlich, als er 100 Kilometer über den Berninapass geradelt ist. «Ganz leger, ohne grosse ehrgeizige Ambitionen», zwinkert er.

Es ist die körperliche Herausforderung, die Beynon am Sport fasziniert. Und die Genugtuung, «etwas Weiteres geschafft zu haben». Dass er dabei einarmig unterwegs ist, hält ihn nicht davon ab. «Ich mache die Dinge einfach ein wenig anders als alle anderen.»

Flexibel und erfinderisch sein

Seit seiner Geburt fehlt Beynon der rechte Arm. «Ich stosse selten an meine Grenzen. Es gibt nur wenige Sachen, die ich wirklich nicht machen kann», erzählt der junge Mann, der zurzeit im Lehrerdiplomstudium an der Universität Zürich steckt und nebenbei ein Praktikum als Datenanalyst bei den Elektrizitätswerken Zürich absolviert. «Bei alltäglichen Dingen muss ich halt flexibel sein. Und ein wenig Erfindungsreichtum erleichtert vieles.» Flexibel musste der Sportliebhaber beispielsweise bei der Wahl eines Musikinstruments sein. Da diese ausschliesslich für «normative Körper», wie Beynon es nennt, gebaut wurden, erschwert dies den Zugang zu einem Instrument erheblich. «Ich hätte vielleicht gerne Klavier oder Bass gespielt. Aber alle Stücke sind für zwei Hände komponiert worden.» Die Stücke müssten beim Lernen durch spezifische Techniken adaptiert werden. Das macht es teilweise sehr aufwendig, was wiederum die Schwelle dazu erhöht. «Darum habe ich mich für Trompete entschieden. Sie konnte ich auch mit einem Arm ganz normal erlernen.» Mit 18 Jahren nahm er zum ersten Mal Musikunterricht. Schnell jammte er mit anderen Musikern zusammen und spielte in kleineren Ensembles mit. 2018 lernte er zwei seiner heutigen Bandkollegen Remo Hagenbuch und Dominik Kägi kennen.

Heute touren die drei gemeinsam mit fünf weiteren Mitgliedern durch die ganze Schweiz, spielten vor wenigen Tagen am Lakesplash in Biel, dem ältesten Reggae-Open-Air der Schweiz. «Für mich ist es schön, auf der Bühne zu stehen. Dass ich das aber mal hauptberuf lich machen werde, denke ich eher weniger», lacht er. An der Musik schätzt er vor allem, mit Freunden auf der Bühne zu stehen und etwas machen zu dürfen, was Spass macht. «Das ist doch eines der schönsten Dinge.»

Wenn man mit Ruben Beynon spricht, wirkt es, als wäre er selten überfordert. Das stimme so aber nicht, wie er erklärt. «Es gibt schon Momente, in denen ich mich eingeschränkt fühle. Dann muss ich halt erst einmal einen ‹Workaround› finden, also eine Bewegung oder Situation überdenken, bevor ich es angehe. Und das braucht Zeit und ist aufwendig. Dann klappt aber das meiste.»

So beispielsweise bei seinem Velo. Damit der leidenschaftliche «Gümeler» in seiner Freizeit über Pässe radeln konnte, musste zuerst eine Spezialkonstruktion für die Bremsen her. «Ich hatte die Idee, zwei Bremshebel auf der linken Seite zu montieren. Nach Recherchen und Abklärungen mit dem Velomech konnten wir das innerhalb von einer halben Stunde realisieren», erzählt er. Mit seinem Velo fährt Beynon auch gerne in die Ferien. Letztes Jahr radelte er von Bellinzona nach Cinque Terre in Italien und in diesem Sommer geht es einmal um die Insel Korsika.

Berührungsängsten entgegenwirken

Grundsätzlich geht Ruben Beynon offen mit seiner Beeinträchtigung um. So trägt er auch keine Armprothese. «Ich habe nichts zu verstecken», meint er lässig. Für ihn sei es wichtig, dass man den Berührungsängsten gegenüber Beeinträchtigten entgegenwirkt, indem man offen darüber spricht. Nur so könne Verständnis und Sensibilität für Betroffene geschaffen werden. Doch trotz aller Offenheit gibt es auch für ihn Momente, in denen er Gesprächen aus dem Weg geht. Beispielsweise dann, wenn ihn jemand im Ausgang auf seinen Arm anspricht. «Es ist schon ein intimes Thema und nicht immer habe ich Lust, mit Fremden an einem Fest über meine Geschichte zu sprechen», gibt er zu.

Allgemein komme es sehr darauf an, wie man ihn anspreche. Vor allem Komplimente für Dinge zu bekommen, für die man generell keine Komplimente gibt, seien seines Erachtens suboptimal im Umgang mit körperlich Beeinträchtigten. Oder das übertriebene Staunen darüber, wie er in der Kletterhalle mit Einarmigkeit eine Boulderroute schafft. «Mir ist schon klar, dass das nett gemeint ist. Aber vielen ist nicht bewusst, dass Beeinträchtige eben solche Bemerkungen als diskriminierend erachten können. Denn: Wieso sollte jemand wie ich, nur weil ich einen Arm habe, das nicht auch können?»

Zu wenig thematisiert

Solche Aussagen fallen unter den Begriff «Ableismus» (vom Englischen «able» = fähig), der die Beurteilung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten meint. Dabei gilt es zwischen der abwertenden und der aufwertenden Form zu unterscheiden.

Der abwertende Ableismus ist die offensichtliche Diskriminierung einer beeinträchtigten Person, beispielsweise, wenn etwas nicht rollstuhlgängig ist oder ihr gewisse Arbeiten nicht zugetraut werden. Der aufwertende Ableismus hingegen meint, dass einer Person mit Beeinträchtigung Komplimente für Alltägliches gemacht werden. «Dieser Form von Ableismus begegne ich sehr oft», so der junge Mann.

Ruben Beynon hat gelernt, über dem zu stehen. Ihm zufolge sei die dürftige Sensibilität der Gesellschaft darauf zurückzuführen, dass das Thema «Ableismus» in öffentlichen Debatten nicht thematisiert wurde. «Wie soll man wissen, was angebracht ist und was nicht, wenn man in seinem Alltag nicht damit konfrontiert ist?», fragt er. Deshalb ist für ihn eins in Zukunft wichtig: «Man muss darüber sprechen.» Nur so rückt auch der «Ableismus» in den Fokus der Öffentlichkeit.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote