Plötzlich im Krieg

  04.03.2022 Sport

Ex-FC-Wohlen-Spieler Anatoliy Kozlenko will aus der Ukraine flüchten – und erhält Unterstützung des ganzen Vereins

In der Vorrunde spielte Anatoliy Kozlenko für den FC Wohlen. Man wollte das Abwehrtalent behalten, doch er musste zurück in seine Heimat, die Ukraine. Dort erlebt Kozlenko nun den Horror des Krieges – und erhält Unterstützung vom FC Wohlen.

Stefan Sprenger

«Es ist hart. Sehr hart. Ich habe Angst. Es ist sehr schwierig.» Die verzweifelte Nachricht des 19-Jährigen Anatoliy Kozlenko von gestern Donnerstag schickt er aus der Stadt Uman in der Ukraine. Uman ist nur ein paar Kilometer entfernt vom rettenden Ufer: Moldawien. Kozlenko sitzt mit seinem Vater im Auto. Wie eigentlich immer in den letzten paar Tagen. Letzte Nacht hat er bei Minustemperaturen im Auto geschlafen. Nicht das erste Mal. Tagsüber sitzt er meist im Stau. Wie eigentlich immer in den letzten paar Tagen. Er will – wie ganz viele in der Ukraine – so schnell wie möglich das Land verlassen. Flüchten vor dem Krieg. Flüchten vor dem Horror. «Wir versuchen rauszukommen. Aber es geht nicht.» Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nicht ausreisen. Verzweifelt versucht er es trotzdem.

«Komornicki spielt in meinem Leben eine grosse Rolle»

Szenenwechsel. Es ist ein sonniger Septembertag. Anatoliy Kozlenko sitzt auf der Terrasse des Restaurants Marco Polo in Wohlen. Der schüchterne, aber aufgestellte Abwehrspieler erzählt seine Geschichte. Er spricht von seiner Juniorenzeit bei Dynamo Kiew. Im Jahr 2019, damals 17 Jahre jung, verlässt er seine Heimat mit einem grossen Traum: Er will Profifussballer werden. Von der Hauptstadt Kiew geht es 2019 in eine andere Millionen-City in der Ukraine: Dnipropetrowsk. Dort wird Kozlenko fussballerisch nicht glücklich. Sein Agent vermittelt ihm ein Engagement in Polens 2. Liga beim GKS Tychy. Dort landet er 2020, kurz bevor die Coronapandemie losgeht.

Und dort trifft er auch den heutigen FC-Wohlen-Trainer Ryszard Komornicki, der damals bei Tychy engagiert war. Komornicki schwärmt vom jungen Talent, holt ihn im Sommer des letzten Jahres ins Freiamt auf ein Probetraining. Kozlenko überzeugt und wird engagiert. Der Ukrainer sagte damals: «Komornicki spielt in meinem Leben und in meiner Fussballkarriere bislang eine grosse Rolle. Er glaubt an mich, gibt mir eine Chance hier in Wohlen. Und die will ich nutzen.» Und der linksfüssige Innenverteidiger, 1,93 m gross, nutzt diese Chance. Er absolviert sieben Spiele über 90 Minuten in der Vorrunde – und zeigt seine Qualitäten. Er ist beliebt bei den Mitspielern und ordnet alles dem Erfolg unter. Auch ihm gefällt es bestens: «Es passt mir sehr hier in Wohlen. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche. Gut. Gut. Gut», sagte er damals in Englisch.

Kozlenko hätte perfekt zum FC Wohlen gepasst. Doch die Geschichte hat einen Haken: Der Ukrainer hat als Nicht-EU-Bürger nur eine Aufenthaltsbewilligung für drei Monate. Der FC Wohlen will ihn halten und versucht alles, dass er bleiben darf. Doch auch die Bemühungen beim Migrationsamt bringen nichts. Ende Oktober muss er ausreisen, weil sein Touristenvisum abgelaufen ist.

Die Teamkasse mit 2500 Franken geschickt

Er ging zurück in die Ukraine. Und er blieb in Kontakt mit einigen FCW-Spielern. Allen voran Mittelfeldmotor Esat Balaj. Er wollte Kozlenko damals aufnehmen, hätte ihm einen Job vermittelt im Familienbetrieb. Doch das klappte nicht, weil er keine Arbeitsbewilligung erhielt.

Und jetzt steckt Anatoliy Kozlenko, dieser junge talentierte Fussballer, dieser aufgestellte Typ, mitten in einem Krieg. Letzte Woche flüchteten er und seine Familie aus Kiew in Richtung Westen. Seine Mutter und der jüngere Bruder konnten nach Rumänien ausreisen. Seine Mutter hat sich auf der Flucht ein Bein gebrochen. Anatoliy Kozlenko und sein Vater durften die Ukraine nicht verlassen und versuchen seither verzweifelt, irgendwo die Grenze nach Moldawien zu überqueren. «Sobald er das geschafft hat, schauen wir weiter», meint Balaj, der in stetem Austausch mit ihm steht. Der FCW-Spieler sagt weiter: «Wenn es sein muss, hole ich ihn persönlich ab in Moldawien. Er und seine Familie können dann bei mir wohnen.»

Balaj versucht in diesen Tagen alles Mögliche, um zu helfen. Und er kriegt dabei die Hilfe vom ganzen Verein. Vor ein paar Tagen hat die erste Mannschaft die Teamkasse an Kozlenko überwiesen, rund 2500 Franken. «So ist er wenigstens finanziell ein wenig abgesichert und es hilft ihm hoffentlich», meint Balaj. Kozlenko ist dafür dankbar. Der Verein hat zudem ein Spendenkonto eingerichtet (Informationen dazu auf der Homepage oder den sozialen Medien). Beim Heimspiel am Samstag (16 Uhr) gegen den FC Schötz wird es ebenfalls die Möglichkeit geben, zu spenden.

Balaj, der als Kosova-Albaner selbst weiss, was Krieg bedeutet, sagt: «Er ist verängstigt. Er wurde aus seiner Heimat vertrieben. Schrecklich. Wir wollen ihm helfen. Anatoliy ist einer von uns.» Der FC Wohlen will nun weitere Spenden sammeln für Kozlenko. «Für ihn steht alles auf dem Spiel, sein ganzes Leben und das Leben seiner Familie», sagt Balaj. FC-Wohlen-Präsident Mike von Wyl sagt: «Vor ein paar Monaten war er noch hier und wir hätten ihn alle gerne im Team gehalten. Jetzt ist er schwer betroffen vom Krieg. Wir alle wollen ihn unterstützen.»

Derweil sitzt Anatoliy Kozlenko nach wie vor im Auto. Immer noch nahe der moldawischen Grenze. Erneut schreibt er: «Wir versuchen, das Land zu verlassen. Aber es ist schwierig, sehr schwierig.»


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