Medaille in Händen, Kinder im Arm

  22.02.2022 Sport

Brief aus Peking – Olympia-Kolumne von Philipp Stöckli

Ich geniesse noch ein paar Tage im Schnee, auf den Gondeln steht «Genting Resort Secret Garden». Und trotzdem bin ich nicht mehr in China, sondern zurück in der Schweiz, genau genommen in Laax, mit meiner Familie. Es ist purer Zufall, aber witzig, dass ich am Samstag noch selber im «Genting Resort Secret Garden» war, 200 Kilometer nördlich von Peking, und tags darauf schon in dessen Partner-Skigebiet Laax. Die Bündner haben die Chinesen seit knapp zehn Jahren mit Know-how unterstützt, ihnen zum Beispiel gezeigt, wie man eine olympiawürdige Halfpipe baut. Seit einigen Jahren nun schon ziert der Schriftzug des Olympia-Winterresorts einige Gondeln in Laax.

Es waren intensive Tage in China, vor allem für den Geist. Und deshalb bin ich froh, wieder zu Hause zu sein, meine Kinder in den Arm nehmen, mich selber frei bewegen zu können. Dass die Masken- und Zertifikatspflicht in der Schweiz inzwischen aufgehoben wurde, verstärkt diesen Effekt von wiedergewonnener Freiheit noch. Wer China als Gastgeberland erlebt hat, kann die vielen Privilegien zu Hause schätzen.

Wieder im Kreis meiner Liebsten lassen sich auch die Erfahrungen bei diesen Winterspielen besser oder zumindest teilweise einordnen. Wir Journalisten waren ja nicht wirklich in China. Die sogenannten «Blasen», die offiziell Schutz vor der Pandemie bieten sollten, haben uns gefühlt ausgesperrt oder eingesperrt, je nach Sichtweise. Es ist auch mit etwas Abstand schräg. Wirklich viel haben wir von diesem Land nicht kennengelernt.

Ich selber kann nur von einem Gespräch berichten mit einem Chinesen, welcher authentisch erschien. Ein 21-jähriger Student aus Peking war für mich die wohltuende Ausnahme unter den zumeist stummen Einheimischen. Er berichtete mir zum Beispiel, dass viele «Volunteers» nicht wirklich aus freien Stücken bei Olym- pia gearbeitet haben. Dass man ihnen an der Uni klarmachte, dass sich ein Einsatz bei den Olympischen Spielen gut machen würde im Lebenslauf. Für ihn sei deshalb klar gewesen, dass er diese «Chance» nutzen muss – mit Betonung auf «müssen». Mit mir so offen reden hätte er gar nicht dürfen. Die Devise für die unfreiwilligen Freiwilligen lautete: Immer freundlich und hilfsbereit sein, aber keine Fragen ausserhalb der eigenen Aufgaben beantworten. Anerkennen muss man, dass die Chinesen für uns Fernsehleute ideale Rahmenbedingungen geschaffen haben. Noch selten hat zum Beispiel technisch alles so reibungslos geklappt wie bei diesen Winterspielen. Selbst als in der Mongolei irgendwelche Grabungsarbeiten eine Glasfaserleitung beschädigt haben, gab es für die Zuschauer auf der ganzen Welt nur für einen Bruchteil einer Sekunde «Schwarz» auf dem TV-Bildschirm. Sofort übernahm die Havarie-Leitung, alle Signale fanden weiterhin ihren Weg in die Wohnzimmer dieser Welt. So verpasste auch niemand den Olympiasieg von Skicrosser Ryan Regez, diesem 1,92 Meter grossen Hünen aus Wengen. Für mich ein Highlight bei diesen Spielen. Nicht weil mich der Schweizer Doppelsieg völlig überrascht hätte. Aber weil wir an meinem letzten Abend in China zufällig zusammentrafen und gemeinsam feierten. So was wäre vor Corona «normal» gewesen. Aber in den letzten drei Wochen durfte es eigentlich gar nicht sein, dass Journalisten und Athleten ohne Sicherheitsabstand von zwei Metern aufeinandertreffen.

Aber so eine olympische Goldmedaille wirkt gerade bei den Chinesen Wunder. Der Respekt vor dem Erfolg ist so gross, dass sich niemand traute, den Berner Oberländer zurechtzuweisen. Und Regez feierte dermassen glückselig, dass auch ich in den Genuss kam, seine Goldmedaille in den Händen zu halten. Ein versöhnlicher Abschluss meiner drei Wochen in China. Es war eine Mischung aus Isolation und Illusion.
Aufgezeichnet: Josip Lasic

Philipp Stöckli ist ehemaliger Sportredaktor des «Bremgarter Bezirks-Anzeigers» / «Wohler Anzeigers». Heute arbeitet er als Projektleiter und Produzent von Live-Übertragungen fürs Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Bei den Olympischen Spielen in Peking war er im Hintergrund für die Planung und Umsetzung der umfangreichen Berichterstattung im Einsatz.


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