Wenn sich Normalität seltsam anfühlt

  15.02.2022 Sport

Brief aus Peking – Olympia-Kolumne von Philipp Stöckli

Ich bin «auf freiem Fuss», seit drei Tagen schon. Und so frei, wie man sich an den Olympischen Spielen in China eben bewegen kann. Aber nach elf Tagen Isolation, Bangen und Hoffen schätze ich die kleinen Freiheiten, die ich nun wieder geniessen kann. Der erste Spaziergang im Hotelareal war begleitet von Glücksgefühlen, wie ich sie schon lange nicht mehr hatte. Das Kitzeln, wenn die Wimpern innert Sekunden einfrieren und zusammenkleben. Oder ein Schluck von einem Kaffee, der den Namen verdient: einfach herrlich.

Nach einem negativen Test mit einem CT-Wert über 40 und zwei «schwellen-positiven» CT-Werten über 35 durfte ich das Isolationshotel verlassen – wie es sich hier gehört mit der Ambulanz und Blaulicht. Für die restlichen Tage bin ich nun als sogenannter «Close Contact» eingestuft. Das bedeutet, dass ich statt einmal neu zweimal täglich getestet werde und immer zwei Meter Abstand auf meine Kolleginnen und Kollegen halten muss. Ich darf auch nicht die offiziellen Olympia-Shuttlebusse benützen. Sondern kriege einen Fahrer gestellt. Und essen muss ich alleine im Zimmer. Ins Restaurant darf ich nicht. Trotzdem fühlt sich dieser Schritt zurück in die Normalität gut an. Erst am Sonntag durfte ich erstmals Olympialuft schnuppern, dabei liefen die Spiele da schon neun Tage. Ich habe mich inzwischen eingerichtet, im «Zhangjiakou Broadcasting Centre» direkt bei der Skisprungschanze. Hier haben wir von der SRG unsere Büros, planen die lan gen Live-Tage und koordinieren mit den Kolleginnen und Kollegen von RTS und RSI.

Ich muss gestehen, ich fühlte mich am ersten Tag fremd, obwohl ich alle Leute von früheren Grossprojekten kenne und schätze. Aber irgendwie fehlen mir elf Tage meines Berufslebens. Sie sind einfach so ins Land gezogen. Dafür habe ich elf Tage erlebt, von denen ich dereinst mal meinen Enkelkindern erzählen werde. Etwa von der digitalen Brieffreundschaft mit der russischen Biathletin Valeria, die sprichwörtlich meine Leidensgenossin war in Isolation. Sie hat mir gestern berichtet, dass sie endlich zurück in der Heimat ist und sich noch ein paar Tage erholt. Dann will sie ihre Form, die sie in Isolation herschenken musste, von Neuem aufbauen. Meine «Resozialisierung» verläuft da einiges reibungsloser. Heute, am dritten Tag in Freiheit, haben mich die Spiele und die Arbeit bereits verschluckt. Ich kümmere mich etwa um Leitungen für die vielen Signale, die den Weg aus China in die Schweiz finden müssen. Und erteile den Journalistinnen und Journalisten Aufträge für die kommenden Tage. Teile ihnen Kameraleute und Fahrer zu, sodass sie rechtzeitig von A nach B kommen, von den Aerials zum Biathlon.

Immerhin: Zu unserem TV-Studio am Gegenhang der gigantischen Skisprunganlage habe ich es gestern geschafft, um vor Ort einen Augenschein zu nehmen. Von diesen Spielen, die ich in den ersten Tagen nur als Zuschauer am Bildschirm verfolgen konnte. So wie sie zu Hause. Die letzte Woche verbringe ich nun mittendrin und werde sie geniessen. Vielleicht bewusster als andere hier vor Ort. Weil sich die Normalität für mich im Moment gerade aussergewöhnlich anfühlt. Und dieses Gefühl möchte ich nicht mehr hergeben, sondern für den Schlussspurt erhalten.

Aufgezeichnet: Josip Lasic

Philipp Stöckli ist ehemaliger Sportredaktor des «Bremgarter Bezirks-Anzeigers / Wohler Anzeigers». Heute arbeitet er als Projektleiter und Produzent von Live-Übertragungen fürs Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Bei den Olympischen Spielen in Peking ist er im Hintergrund für die Planung und Umsetzung der umfangreichen Berichterstattung im Einsatz.


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