Der Weltstar aus dem Freiamt

  11.02.2022 Sport

Franz Nietlispach ist der beste Rollstuhl-Leichtathlet der Welt –und kommt aus Muri/Benzenschwil

«Heimat bleibt Heimat», sagt Franz Nietlispach. Auch wenn der frühere Rollstuhl-Spitzensportler seit Jahrzehnten nicht mehr im Freiamt lebt, so hat ihn die Region geprägt. Besonders ein Sommertag im Jahr 1973.

Stefan Sprenger

Sein Buch heisst «1001 Sieg», doch in den 25 Jahren, die er Wettkampfsport betrieb, konnte Franz Nietlispach weit mehr als 1000 Siege erringen. 1000 steht pauschal für die unzähligen Erfolge – und die Zahl 1 steht für den wichtigsten Sieg: den Sieg über seine Behinderung. «Der Sport war für mich ein Instrument zur gesellschaftlichen Integration.»

Unfall verändert alles

Franz Nietlispach war Spitzensportler. Und dominierte für zwei Jahrzehnte die Szene. Er galt schon bei den Junioren des FC Wohlen in den 70er-Jahren als riesiges Talent. Ein folgenschwerer Unfall verhinderte dann eine Karriere auf dem Fussballrasen. Im Sommer 1973 stürzt er in Winterschwil vom Kirschenbaum. Die Diagnose: inkomplette Querschnittlähmung. Der damals 15-Jährige – der in Muri und Benzenschwil aufwuchs – hat in den ersten Jahren mit seinem Schicksal heftig zu kämpfen. Doch er macht das Allerbeste aus der Situation. Er wird erfolgreicher Unternehmer und gilt – bis heute – als der beste Rollstuhl-Leichtathlet aller Zeiten. In seiner bewegten und langen Karriere, die Ende der 70er-Jahre beginnt und Mitte der 2000-er Jahre endet, wird er 20-mal Weltmeister und holt 14 Goldmedaillen an den Paralympics. Total holt er 23 Medaillen an den Paralympics. 1988, 1990, 1991 und 1994 wird er Schweizer Behindertensportler des Jahres.

In der Serie «Sporthelden von damals» blickt Nietlispach zurück auf sein spannendes Leben, auf den Unfall und auf eine Begegnung mit US-Präsident Bill Clinton.


Kirschbaum am Freitag, den 13.

Serie «Sporthelden von damals»: Franz Nietlispach, der Rollstuhl-Star aus dem Freiamt

Er ist der erfolgreichste Rollstuhl-Leichtathlet aller Zeiten. Franz Nietlispach, der in Muri und Benzenschwil aufwuchs, hat ein bewegendes Leben hinter sich. Ein Leben, das ohne einen Kirschbaum im Freiamt anders verlaufen wäre.

Stefan Sprenger

Sommer 1973. Freitag, der 13. Juli. Es ist ein heisser Tag. Der 15-jährige Franz Nietlispach geht zum «Chriesigünne» auf einen Bauernhof in Winterschwil, gleich neben Beinwil/Freiamt. Eigentlich wollte er in der Kistenfabrik in Merenschwand einen Ferienbatzen dazuverdienen, aber eine Ohrenentzündung sorgte dafür, dass er doch lieber auf Kirschenfang ging. «Der Lärm in der Kistenfabrik war kaum auszuhalten», erzählt er. An jenem 13. Juli ist er schon frühmorgens auf der Leiter und klettert den reifen Kirschen entgegen. Die Sprossen der Leiter waren noch feucht vom Morgentau. Mit der «Chratte» auf dem Rücken hievt er sich auf den ersten Ast. Es knackt. Der morsche Ast bricht. Nietlispach fällt runter, voll auf den Rücken. Sein Leben wird ab sofort nie mehr so sein, wie es war.

12 Kinder

Geboren und aufgewachsen ist er in Muri. «Wenn man von Boswil nach Muri fährt und links rüberschaut, sieht man einen Bauernhof, wo gross «Neuhof» auf dem Dach steht. Dort bin ich gross geworden», erzählt er. Es ist eine Grossfamilie mit 12 Kindern, acht Mädchen und vier Buben. Als das jüngste Kind geboren wird, ist das älteste schon 20 Jahre alt. Das sei «besonders», wie er sagt. «Wir sind beispielsweise selten alle gemeinsam am Tisch gesessen und keiner hatte ein eigenes Zimmer.» Franz Nietlispach ist das zweitjüngste Kind, kommt 1958 zur Welt. Als sein Vater 1965 an Herzproblemen stirbt, muss man den Hof verkaufen. Die Familie zieht nach Benzenschwil. «Meine Mutter hatte 12 Kinder zu versorgen. Es ist unglaublich, was sie geleistet hat. Ich war mit zwei Kindern schon fast überfordert», sagt er und beweist damit Humor und gleichzeitig grossen Respekt vor der riesigen Stärke und Liebe seiner Mutter.

Die Familie Nietlispach ist nach wie vor in Kontakt, auch wenn mittlerweile auch die Mutter verstorben ist. Nietlispachs älteste Schwester feierte kürzlich ihren 80. Geburtstag, da kamen alle wieder an einem Tisch zusammen. «Ich kann mir kaum alle Geburtstage meiner Geschwister merken», lacht er und erzählt, dass es mindestens einmal pro Jahr eine Familienzusammenkunft gibt, meistens findet diese im Freiamt statt, meistens am Todestag der Mutter. Da kommen alle Nietlispach-Kinder zusammen. Einige Geschwister sind nach wie vor im Freiamt zu Hause. Er selbst lebt seit vielen Jahren in Zeiningen im Fricktal.

Der Grund, wieso es ihn ins Fricktal gezogen hat, ist ebenfalls auf diesen Freitag, den 13. Juli 1973, zurückzuführen. Nach seinem Sturz vom Kirschbaum wird er von einem kleinen Traktor abgeholt, mit dem man normalerweise die Milchkannen transportiert. «Vermutlich», sagt Nietlispach, «hat man die richtige Lagerung verpasst und die Lähmung entstand erst auf dem Traktor.»

Doktor fährt nach Muri bei Bern

Man habe ihn an Armen und Knien getragen und auf die Ladefläche gelegt und ins Haus gebracht. «Man wusste es damals nicht besser.» Mit dem Krankenwagen wurde er ins Spital Muri gebracht. Und dort wartete Nietlispach auf Dr. Guido Zäch, die damalige Koryphäe in Sachen Querschnittlähmung. Zäch wurde alarmiert und machte sich gemeinsam mit seiner Sekretärin auf nach Muri ins Spital. «Dummerweise fuhren sie nach Muri bei Bern. Und weil es damals keine Handys gab, wartete ich mehrere Stunden, bis er endlich da war», sagt Nietlispach – und kann heute darüber lachen. Irgendwann kommt Zäch. «Er klopfte mir auf die Schulter und sagte: Das kriegen wir wieder hin.» Ein Helikopter bringt Nietlispach dann in eine Spezialklinik nach Basel.

Es folgten die schwersten Monate in seinem Leben. «Mir sagte niemand, dass ich für immer im Rollstuhl bleiben würde.» Die Diagnose: inkomplette Querschnittlähmung. Er spürte seine Beine bis zu den Knien, konnte sie aber nicht bewegen. «Ich habe meine Erwartungen dann Tag für Tag runterschrauben müssen. Ich hatte grosse Mühe damit, es zu akzeptieren. Irgendwann habe ich mich mit meinem Schicksal arrangiert. Es gibt Leute, denen geht es noch viel schlechter als mir.»

Er war ein begnadeter Junior beim FC Wohlen

Im Paraplegiker-Zentrum in Basel wird ihm geholfen. Und er hat wieder sportliche Ziele. Nietlispach war vor seinem Unfall ein starker Fussballer. Er spielte beim Nachwuchs des FC Wohlen von 1971 bis zu seinem Unfall. Sein Trainer hiess Peter Caflisch. Gemeinsam mit seinem Freund Heinrich Lustenberger fahren sie in die Trainings nach Wohlen. Nietlispach, der mittelmässige Schüler, der immer nur so viel gemacht hat für die Schule, wie nötig war, ist auf dem Fussballplatz ein hochtalentierter Kicker. Es hiess, er wäre ein Nationalspieler geworden. «Ich hatte ein gutes Ballgefühl, das half mir dann auch im Rollstuhl», sagt er heute.

Nicht nur das Paraplegiker-Zentrum zieht ihn nach Basel, sondern auch die Liebe. «Sie war eine hübsche Krankenschwester aus Basel, ich der Patient im Rollstuhl.» Mit Frau Doris zieht er vor 25 Jahren nach Zeiningen, sie heiraten und haben zwei Kinder (Roman und Celina).

Zurück zu diesem Schicksalstag im Sommer 1973, der sein Leben veränderte. In den ersten Jahren danach hatte er Mühe, driftete etwas ab. «Ich musste das alles irgendwie verarbeiten.» An Stöcken in die Schule in Muri zu gehen, sei ihm schwergefallen. Der Sport gab ihm Halt. Und weil er sportlich nur in Basel vorankam, zieht es ihn im Alter von zwanzig Jahren definitiv aus dem Freiamt ans Rheinknie.

Beruflich stark, sportlich überragend

Er absolvierte eine KV-Lehre (bei Sandoz) und nahm später eine Stelle in der Rollstuhlfirma Küschall an. «Ich konnte so auch Rollstühle testen und mir wurde das Material zur Verfügung gestellt.» Den Grossteil seines Arbeitslebens verbringt er beim Pharmakonzern Novartis, wo er 20 Jahre lang Leiter des Sportsponsorings ist und beispielsweise die «Deals» mit dem FC Basel einfädelt. Nietlispach macht Weiterbildungen in Sachen Sportsmanagement, gründet eine eigene Firma und baute in den Jahren 2008 und 2015 zusammen mit einem polnischen Flugzeugbau-Ingenieur das schnellste Handbike der Welt – das Carbonbike. Kein anderes Handbike gewann an Paralympics und Weltmeisterschaften mehr Medaillen. Inzwischen ist das Carbonbike «amerikanisch» und heute noch an der Weltspitze. Nietlispach konzentriert sich seither auf den «Miamigo», ein elektrisches Zuggerät, das an praktisch jeden Rollstuhl montiert werden kann.

Menschlich ist Franz Nietlispach aufgestellt, humorvoll und hoch angenehm. Beruflich ist er zielstrebig und erfolgreich. Und seine sportlichen Erfolge lassen sich kaum in Worte fassen. In seiner Karriere, die Ende der 70er-Jahre beginnt und Mitte der 2000er-Jahre endet, wird er 20-mal Weltmeister und holt 14 Goldmedaillen an den Paralympics. Total holt er 23 Medaillen an den Paralympics. 1988, 1990, 1991 und 1994 wurde er zum Schweizer Behindertensportler des Jahres gewählt. Er stellt Europa- und Weltrekorde auf. Nietlispach siegt an so vielen Rennen, dass man diese kaum alle auflisten kann.

Franz Nietlispach war bis 2012 der erfolgreichste Rollstuhlsportler der Welt. Weil der Schweizer Heinz Frei inzwischen noch mehr Medaillen an Paralympics abräumte, ist Nietlispach heute «nur» noch der erfolgreichste Rollstuhl-Leichtathlet aller Zeiten. «Sport ist Lebensmut. Sport hat mir so viel gegeben. Rollstuhl hin oder her», sagt Nietlispach. Er weiss, dass dieser Unfall im Sommer 1973 auch seine guten Seiten hatte. «Ich wäre nie Weltmeister und Paralympics-Sieger geworden ohne diesen Unfall auf dem Kirschbaum.»

Auch politisch tätig

Nietlispach erlebte in seinem Sportlerleben so viele wunderschöne Dinge. Er erinnert sich an das Jahr 1980. Nach seinem ersten Paralympics-Sieg wurde ihm in Benzenschwil ein grosser Empfang bereitet. «Das war enorm schön.» Und etwas ganz Besonderes war die Begegnung mit US-Präsident Bill Clinton. 1995 wurden alle Sieger des Boston-Marathons ins Weisse Haus eingeladen. So auch Nietlispach. Der Freiämter traf dann Clinton, fuhr mit ihm in der Limousine und ging joggen mit dem Präsidenten. «Er war wie ein alter Bekannter. Aufgestellt, zuvorkommend, witzig. Ich schwärme heute noch von ihm», so Nietlispach. Er siegte übrigens auch 1997, 1998, 1999 und 2000 am Boston-Marathon. Weil der US-Präsident dann aber weniger sportlich war (George Bush), wurden die Sieger nicht mehr ins Weisse Haus eingeladen. Doch vielleicht war jener Kontakt mit Clinton auch ausschlaggebend für seine eigene politische Karriere? Nietlispach gehörte von 2001 bis 2005 als Abgeordneter der FDP dem Grossen Rat des Kantons Aargau an. 2003 kandidierte er für die FDP bei der Nationalratswahl und kam dabei auf den vierten Platz.

Franz Nietlispach wurde ein Pionier für den Rollstuhlsport auf der ganzen Welt. Das ist etwas, worauf er sehr stolz ist. «Eine Tür geht zu. Eine Tür geht auf. Man sollte der Tür, die zugeht, nicht lange nachtrauern, sondern sich auf das konzentrieren, was man kann. Nach vorne schauen und Neuland betreten. Es war mir nie langweilig im Leben. Ich wusste immer, was ich mit meiner Zeit anfangen will.» Und er nutzte seine Lebenszeit hervorragend. Seine Firma führt er heute in einem Teilzeitpensum und geniesst die Zeit mit der Familie.

«Ich bin und bleibe Freiämter»

Vor Kurzem sei er mit dem Zug aus dem Tessin zurück nach Hause ins Fricktal gefahren. Es gab aber eine Umleitung – und er musste durch das Freiamt fahren. Nietlispach fuhr an seinem Elternhaus in Muri vorbei, dort, wo gross «Neuhof» auf dem Dach steht. Gefühle kommen hoch. «Heimat bleibt Heimat. Ich bin und bleibe Freiämter», so Nietlispach.

Und wenn er heutzutage an diesen Freitag, den 13. Juli 1973, zurückdenkt, ist er eigentlich froh, wie alles passiert ist. «Ich habe keine schlechten Gefühle. Mein Leben ist wunderbar, wie es gelaufen ist, mit allen Höhen und Tiefen.» Der Kirschbaum in Winterschwil, wo sein Leben durch den Unfall eine fatale Wende nahm, wurde mittlerweile gefällt.


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