Brief aus Peking – Olympia-Kolumne von Philipp Stöckli

So langsam wird es eng hier drin. Ich bin nun schon sechs Tage im Isolationshotel und die Zimmerwände scheinen immer näher zu rücken. Es ist spannend, was in den letzten Tagen passiert ist. Mit mir und der Wahrnehmung dieser Isolation. Es wird mir mit jedem Tag bewusster, dass ich tatsächlich eingesperrt bin.

Ich bin seit meiner Ankunft in China positiv auf Covid getestet worden. Die Infektion, das zeigen die Werte, muss ich mir im letzten und dümmsten Moment in der Schweiz eingefangen haben. Am letzten Mittwoch war der Wert bei 20, inzwischen ist er auf 31 gestiegen (gestern Abend). In der Schweiz wäre ich jetzt negativ. In China muss ich innert 24 Stunden zwei negative Tests mit CT-Werten über 40 abliefern. Oder drei «positive» Tests mit CT-Werten zwischen 35 und 40, dann könnte ich die Isolation unter Auflagen ebenfalls verlassen. Gestern Montag war das für meine Nachbarin auf der anderen Gangseite der Fall. Valeria Vasnetsova, eine Biathletin aus Russland, hatte insgesamt neun Tage hier im Isolationshotel verbringen müssen. Für die 24-Jährige war mit dem positiven Test bei Ankunft am Flughafen eine Welt zusammengebrochen. Ihr Olympiatraum war in einem einzigen Moment geplatzt. Kaum war sie in Isolation, hatte die russische Delegation eine Ersatz athletin nachnominiert. Lera, wie sie sich nennt, ging hier drin durch die Hölle, wie man auf ihren sozialen Medien erfahren konnte. Ich hörte sie bereits am Donnerstag weinen. Das hat mich aufgewühlt und nicht mehr losgelassen.

Irgendwann hielt ich ihr Schluchzen nicht mehr aus. Ich verliess mein Zimmer, um meinen Abfall zu entsorgen, und steckte ihr unter der Tür einen Zettel mit meiner Nummer zu, falls sie jemanden zum Reden oder Schreiben brauche. Es dauerte einen halben Tag, bis die ersten Nachrichten aufpoppten und ich überhaupt erfuhr, wer sich hinter den bitteren Tränen versteckte. Lera, so meldete sie, hatte kaum mehr die Kraft, um aufzustehen. Tagelang hatte sie fast nichts gegessen, mehrere Kilos abgenommen und alle Energiereserven aufgebraucht. Ich konnte mir nicht erklären, wieso es ihr so schlecht ging, bekam ich doch jeden Tag Unmengen an Essen. Beim ersten Frühstück war ich überzeugt, ein Paket für den ganzen Tag bekommen zu haben. Wie sich herausstellen sollte, bekam ich schliesslich dreimal am Tag ein ähnliches Paket. Lera aber erhielt offenbar nicht das gleiche Essen. Immerhin: Kaum hatte Lera verzweifelt ihr schlechtes Essen auf Instagram gepostet, wurde die Qualität besser. Ihre Mahlzeiten kamen übrigens gemäss IOC aus dem Athletendorf, weil dort die Standards höher sind und die Athleten nicht Gefahr laufen, verunreinigtes Essen zu sich zu nehmen.

Es sind diese Momente des Kopfschüttelns, die meine eigene Situation relativieren und erträglicher machen. Da lobe ich mir unser Team der SRG, das mich täglich unterstützt, mit Informationen und sogar «Fresspäckli» in die Isolation versorgt. Davon profitierte auch Lera: die Schweizer Schokolade, die ich ihr ähnlich untalentiert wie unsere Mixed-Curler über den Gang ins Zimmer rutschen liess, versöhnte die junge Russin endgültig mit ihrem schwierigsten Moment der Karriere. Heute nun hatte die Isolation für Lera ein Ende. Ich brauche noch einen Moment Geduld. An der Biathlon-WM 2025 in Lenzerheide wollen wir uns spätestens wiedersehen. Ich bin gespannt. Uns verbinden intensive Tage, eine Zweckgemeinschaft. Aber wirklich kennen tun wir einander ja nicht. Sie hat deshalb auch verpasst, wie ich bei Beat Feuz’ Goldfahrt jubelte, ja im Käfig förmlich schrie vor Freude.

Aufgezeichnet: Josip Lasic

Philipp Stöckli ist ehemaliger Sportredaktor des «Bremgarter Bezirks-Anzeigers / Wohler Anzeigers». Heute arbeitet er als Projektleiter und Produzent von Live-Übertragungen fürs Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Bei den Olympischen Spielen in Peking ist er im Hintergrund für die Planung und Umsetzung der umfangreichen Berichterstattung im Einsatz.