Die Rose hat ihren Morgentau

  25.01.2022 Sport

Serie «Sporthelden von damals»: Kickboxen veränderte das Leben der Freiämterin Sengül Güzel

Die Dottikerin Sengül Güzel entschied sich mit 14Jahren für das Kickboxen. «Das hat mein Leben von Grund auf positiv verändert», sagt die 14-fache Schweizer Meisterin. Heute ist sie 37Jahre alt und lebt in Deutschland. Die Ereignisse der letzten Monate haben ihr Leben erneut stark verändert.

Stefan Sprenger

Gross, schlank und lange Beine. Sengül Güzel wäre die perfekte Balletttänzerin geworden. «Das wäre mir wohl zu langweilig gewesen», sagt sie lachend. 1998 – im Alter von 14Jahren – wird sie von einer Freundin ins Training zu Kickboxing Wohlen mitgenommen. Sie war schon immer sportlich, spielte Volleyball – und suchte dann etwas, was eben nicht langweilig ist. Bei Rocco Cipriano und dem Kickboxen wurde sie fündig. «Mental und körperlich wird man enorm gefordert. Und das hat mich von Anfang an fasziniert.»

Das «verschüpfte» Mädchen holt sich Selbstvertrauen

Das Volleyball hat sie fortan bleiben lassen und alle Kraft ins Kickboxen gesteckt. Ein Jahr später wird sie bereits Schweizer Meisterin in der U16-Kategorie (1999). Es folgte eine steile Karriere. 14 Mal wird sie Schweizer Meisterin, sie gewinnt die Austrian Classics und den Weltcup in Italien. 2006 wird sie «Freiämter Sportlerin des Jahres». Ihr Karrierehöhepunkt: Die Bronzemedaille an der Light-Contact-Europameisterschaft 2008. «Meine Karriere hat mir enorm viel gebracht, ich kann das Kickboxen jedem empfehlen».

Nicht nur sportlich, sondern vor allem auch als Mensch wurde sie geprägt von der Sportart und ihrem Mentor Rocco Cipriano, dem Oberhaupt von Kickboxing Wohlen. «Ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Ich bin ihm sehr dankbar, was er aus mir gemacht hat.» Als sie mit 14Jahren anfing, sei sie scheu gewesen, ein wenig «verschüpft», wie sie es nennt. Schon nach kurzer Zeit sei ihr Selbstvertrauen enorm gestiegen. «Ich wurde dank dem Sport zu einer selbstbewussten jungen Frau.»

Rocco Cipriano beschreibt sie einst mit folgenden Worten: «Sengül Güzel hat sehr bescheidene und respektvolle Umgangsformen, trotzdem steckt in ihr ein wahrer Kämpfer. Sie ist sehr zielorientiert und hat eine ausgeprägte Willenskraft. Ihre grosse Anpassungsfähigkeit erlaubt ihr in folgenden Disziplinen zu kämpfen: Semi, Light, Full und Full mit Low Kick.»

Güzel wuchs in Dottikon auf, besuchte dort die Bezirksschule. Im Alter von 14Jahren zügelte die Familie nach Othmarsingen. Dort lebte sie mit ihren Eltern, den drei Schwestern und ihrem Bruder. Zu Hause pflegte man die türkischen Traditionen und Werte. «Ich habe zwei Heimaten», meint sie. Sie sei im Vergleich zu ihren Schweizer Freundinnen eher streng erzogen worden. Nichts Schlechtes, sondern Güzel sieht viel Positives darin: «Respekt vor den alten Menschen, Liebe für die jungen Menschen», so ihr Kredo. Und die Familie unterstütze sie bei ihrem Hobby immer stark, war mächtig stolz auf die Erfolge von ihr. Übrigens: Sengül bedeutet auch Türkisch «fröhliche Rose.»

Plötzlich durfte sie nicht mehr weitermachen

Und fröhlich machte sie das Kickboxen. Zwischen 2001 und 2011 prägte sie die weibliche nationale Kickbox-Szene. Und dann war Schluss. Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie nicht mehr weitermachen. «Das war eine Herausforderung. Plötzlich durfte ich nichts mehr machen.» Sie bleibt dem Sport noch eine kurze Zeit treu, engagiert sich bei Kickboxing Wohlen oder als Expertin bei Wettkämpfen. «Zu Beginn hat es mir geholfen, doch später tat es weh, dass ich nur noch zuschauen konnte. Ich musste mich distanzieren vom Kickboxen.» Und das tat sie auch, sie probierte neue Dinge aus. Salsa, Yoga, eine Weltreise. Es half, den Schmerz des Kickbox-Verzichts zu mindern.

Seit wenigen Monaten hat sie eine neue Lebensaufgabe gekriegt. Denn das Jahr 2021 hat ihr Leben auf den Kopf gestellt. Am 10. April heiratete sie. Im Mai zügelte sie nach Bad Säckingen (Deutschland) und am 25. August 2021 kam ihre Tochter Lavin auf die Welt.

Jetzt gibt es Sport mit dem Babywagen

Und natürlich treibt Güzel auch als Mutter viel Sport. Es nennt sich «Laufmamalauf». Sengül Güzel erklärt lachend: «Es ist Sport mit dem Babywagen. Es tut mir sehr gut.» Ihren Job als Oberstufenlehrerin an der Schule in Lenzburg hat sie für ein halbes Jahr pausiert, sie wird bald wieder mit einem Teilpensum beginnen.

Den Kontakt zu den Mitgliedern von Kickboxing Wohlen hat sie natürlich nach wie vor. «Manchmal, wenn ich meine Verwandten im Freiamt besuche, gehe ich beim Kickboxtraining vorbei. Manchmal gehen wir danach eine Pizza essen im Restaurant Central in Wohlen. Und dann kommen Erinnerungen hoch.» Denn es ist Tradition bei Kickboxing Wohlen, dass man nach fast jedem Wettkampf ins «Central» geht und eine Pizza geniesst. «Wie so vieles, sind auch das unvergessliche Erinnerungen.»

Schickt sie ihre Tochter auch zu Rocco Cipriano?

Auf ihre Zeit als Kickboxerin schaut sie nur positiv zurück. «Ich habe meine Lebenszeit und meine Energie enorm gut ausgenützt. Die Entscheidung, mit 14Jahren ins Kickboxen zu gehen, war eine der besten meines Lebens. Sportlich und menschlich hat mich das alles sehr weitergebracht und zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.» Und fast wie ein kleines Mantra erwähnt Sengül Güzel immer wieder ihren Trainer und Mentor Rocco Cipriano. «Was er mit den jungen Menschen beim Sport macht, wie er ihnen die wichtigen Werte im Leben vermittelt, das ist unglaublich eindrücklich.» Wird Güzel auch ihre Tochter Lavin ins Kickboxen zu Cipriano schicken? Sie lacht laut und sagt: «Ich hoffe es sehr.»

Güzel erreichte viele Erfolge im Kickboxen. Sie war die erste Frau bei Kickboxing Wohlen, die den Meistergrad erreichte. Für die Schwarzgurtträgerin eine Ehre: «Man hat eine grosse Vorbildfunktion, dazu gehört auch gutes Benehmen.»

«Er hat immer gesagt, man soll nicht aufgeben»

So fragt sie auch höflich, ob man das Gespräch jetzt langsam beenden könnte. Denn: Baby Lavin schreit. «Sie hat Hunger», meint Sengül Güzel. Und erzählt noch, dass die Zeit als Kickboxerin ihr auch bei den Herausforderungen als Mutter hilft. «Rocco Cipriano hat immer gesagt, man soll nie aufgeben. Und das hilft mir auch jetzt», sagt sie lachend. Sie lässt alle Menschen im Freiamt grüssen und verabschiedet sich. Die «fröhliche Rose» (Sengül) muss sich um ihren «Morgentau» (Lavin) kümmern.


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